Dostojewskis Brüder sind nicht umsonst auf den Bühnen gerade schwer angesagt. Schon Nabokov sah in den wechselnden Figurenbeziehungen eher Szenen eines Theaterstückes denn einen Roman. Anhand der Kriminalstory vom Mord am alten Karamasow wird hier ein philosophischer Disput aufgemacht, treffen Intellekt, Hedonismus und religiöses Empfinden als die drei ungleichen Brüder Iwan, Dmitri und Aljoscha aufeinander. Da geht’s wie immer bei den Russen mit reichlich Schnaps (hier sind’s Cognäc’chen und die gleich aus Kanistern) um die ganz großen Fragen: Was macht den Menschen aus? Gibt es einen Gott? Und was bedeutet es, wenn es keinen gibt? Was ist dann Schuld? Oder ist jetzt alles erlaubt?
Dass das nicht zu ermüdender Theorie wird, liegt am lebendigen Erzählen ganz nah an den Figuren. An einem Spannungsbogen, der sich von Szene zu Szene steigert, so wie die Bühne sich Runde um Runde weiterdreht: ein Tanz der zerissenen Seelen, die so russisch sind, dass es dafür auch nur hier ein Wort gibt: надрыв heißt das und was es alles bedeuten kann, schreit uns Vanessa Loibl als (geh)behinderte Lise in einer der vielen eindrücklich-verstörenden Szenen vom Bühnenrand entgegen. Vielmehr aber spürt man’s jede Sekunde in diesem düsteren Kosmos aus Wort, Spiel, Licht und der Musik der Klangwerker Friederike Bernhardt & Johannes Cotta am eigenem Leibe.
Er lässt sich empfehlen!
Ein Feuerwerk toller Schauspielerszenen hält die (meisten) Zuschauer bei der Stange: Henning Hartmann gibt den Lebemann Dmitri, der – ganz Sohn des Vaters – seinen Begierden nachjagend, sich zwischen Geldnöten, Frauenzimmern und am Ende zu unrecht beschuldigt vor Gericht wiederfindet. Hochkomisch die Szene, in der er Aljoscha (Günther Harder) die Intonation seiner Nachricht an die zukünftige Ex wieder und wieder üben lässt. Vater Karamasow ist bei Andreas Schlager pragmatisch handfest und verlässlich versoffen, Lisa Natalie Arnolds Gruschenka herrlich boshaft und bei Sebastian Grünewalds Iwan, unter dessen kühlem Verstand die eiskalte Verzweiflung im Angesicht des NICHTS brodelt, bekommt man nicht nur in der Großinquistor-Szene eine Gänsehaut.
Ich rebelliere nicht gegen meinen Gott, ich nehme nur seine Welt nicht hin
Die Dreh- und Angelpunkt des Abends aber ist Günther Harders Aljoscha. Hier laufen die Fäden zusammen, wenn der, fromm und schlicht, von einem zum anderen rennt und zu schlichten, zu retten, zu helfen, zu verhindern sucht. Und der am Ende am tiefsten weil aus dem reinsten Glauben verzweifelt. Und am heftigsten: beinahe bis zum Schaum vorm Mund sucht er schreiend zu verteidigen, was doch schon längst verloren ist. Aber Gott schweigt. Natürlich.
Einer unheiligen Messe in der Kirche der Angst vor dem Menschen ohne Gott wohnen wir hier bei. Anstrengend ist das, jawoll. Erschöpft sinkt man doch ab und an ein paar Zentimeter zu tief in den Theatersessel. Um in der nächsten Szene wieder ganz da zu sein und sich zu freuen, dass die da oben immer noch Theater spielen. Die Kerzen brennen nieder, es geht auf Zwölf, während Bühne und Figuren und Szenen und Bilder sich in Nebel, Licht und Klang immer suggestiver, immer hypnotischer – und vielleicht auch die ein oder andere bedeutungs- und nebelschwangere Umdrehung zuviel – dem Schlusse zu drehen: Da tanzt der Teufel (Großartig: Susana Fernandes Genebra, die bezeichnenderweise auch den Geistlichen Sossima spielt) im kreisenden Trichter einen wilden Tanz und lacht sich ins Fäustchen. Ein großes Schlussbild eines großen Abends, in dem noch so viel mehr steckt, als sich hier beschreiben lässt.
Und irgendwo auch ein stückweit ein tröstliches Bild: Solange das Böse noch fröhlich tanzt, muss es einfach auch dessen Gegenpart geben. Und so lange beides im Menschen widerstreitet, ist er wohl doch nicht ganz verloren zu geben.
» Die Brüder Karamasow, Schauspiel Hannover
Regie: Martin Laberenz. Bühne: Volker Hintermeier. Mit: Lisa Natalie Arnold, Susana Fernandes Genebra, Katja Gaudard, Vanessa Loibl, Jakob Benkhofer, Sebastian Grünewald, Günther Harder, Henning Hartmann, Andreas Schlager, Jonas Steglich. Musik: Friederike Bernhardt, Johannes Cotta
Wieder am: 30. April sowie am 6. und 8. Mai.