den augenblick ergreifen – sebi hartmanns schmerzhaft-grandioser theaterbildersturm in dresden

All that we see or seem ... wie so vielen Sebi-Hartmann-Abenden steht auch diesem am Staatsschauspiel Dresden das Edgar Allen Poe Zitat voran. Und wie Träume aus Träumen lösen sich dann schemenhaft die Spieler aus dem waschküchen-dichten Nebel, verharren kurz an der Rampe und verschwinden wieder. Genauso werden sich in den nächsten 2¾ Stunden Bruchstücke aus Dostojewskis Roman aus dem Bühnengewusel schälen, nur scheinbar zusammenhanglos, eindringlich und verstörend und nervig, schön und hässlich zugleich, und sich dann gleichsam wieder darin auflösen, bis die Spieler sich todesmutig in die nächste Szene stürzen.

© Sebastian Hoppe
© Sebastian Hoppe

Wem das jetzt schon zuviel des theatralen Pathos war, der ist vermutlich falsch in diesem wahnsinnigen Bühnenkosmos, den Regisseur und Ensemble hier aus Dostojewskis „Erniedrigten und Beleidigten“ erschaffen – nur für diesen einen Moment und jedes Mal neu. Genau wie das Bild, das die Spieler im Laufe des Abends auf die riesige, anfangs unschuldig-weiße, fordernde Leinwand im hinteren Teil der weitgehend leeren Bühne malen werden. Malen und übermalen und wieder übermalen. Am Ende sind sie selbst zur Leinwand geworden für ein düsteres, größenwahnsinniges Theatergemälde.

Ist man anfangs noch – zunehmend verweifelnd, weil textunkundig – versucht, die Figuren des Romans in den Spielern zu finden, gibt man sich bald gern verloren und lässt sich mitreißen von diesem Sog aus all den Puzzlestücken, die sich am Ende tatsächlich zu Geschichten und Charakteren formen. Die Spieler sind von Beginn an auf Tempo 180 und werden in den kommenden Stunden nicht im mindesten nachlassen. Sie rennen, sie schreien, schlagen um sich, in immer neuen Konstellationen finden sie zueinander und geben stückchenweise ihre Geschichten, ihre Erniedrigungen und Beleidigungen, preis.

Da ist die sterbende Tochter, die bei ihrem Vater Vergebung sucht und brutal zurückgestoßen wird – roh, gar nicht leidlich und ganz wunderbar gespielt von Nadja Stübiger mit jener bösartigen Freundlichkeit, wie sie sonst nur die Österreicherinnen drauf haben und die schon sehr an Birgit Unterweger erinnert. Da ist der junge Aljoscha (Lukas Rüppel), hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen, dem Anspruch des Vaters und eigenem Willen. Da ist die blutjunge Nelly (Luise Aschenbrenner), die sich auf der Straße verkauft und von Selbstekel zerfressen schmerzhafte Minuten lang an der Rampe ihren Selbsthass herausschreit. Da ist der alte Fürst, von Torsten Ranft gespielt zwischen kaltschnäuzig-jovialem Egoismus und hilfloser, tragikomischer Senilität.

© Sebastian Hoppe
© Sebastian Hoppe

Und da ist last but not least der Erzähler, der Dichter, der alles betrachtet und notieren wird: Moritz Kienemanns Wanja ist die Konstante des Abends – wenn man so will, der durchgehende Pinselstrich in den Niederungen der Seelen. In ihm ringen sehr eindrücklich Verletzlichkeit, Empathie und der Wunsch einzugreifen mit der abgeklärten Distanz des Beobachters und unbedingtem künstlerischen Schaffensdrang.

Es ist ein atemloser, für Spieler und Publikum anstrengender Abend. Anders als beispielsweise bei Hartmanns Frankfurter » Dämonen (an die nicht nur die schwarzen Engelsflügel des Fürsten und das  hin-und hergerollte Krankenbett erinnern) geht es hier gar nicht so sehr um ein Vordringen in den Kern, die Seele dieses Romans. Nein, es geht um den einen, den einzigartigen Moment selbst, in dem Theater entsteht.

Nicht umsonst sind Texte von Wolfram Lotz eingeschnitten, die vom fürs-Theater-Schreiben handeln. Jetzt muss hier erstmal Text in den Körper! heißt es da und genau das ist zu sehen, mehr noch zu spüren: wie der Text in die Schauspielerkörper hineinkommt, in ihnen arbeitet, um im nächsten Moment live on stage geboren zu werden – schmerzhaft, wie sich das gehört. Jedes Mal neu, jedes Mal anders – großartig, vor den Kopf stoßend, komisch, berührend, surreal, (selten) still, (oft) fast nicht aushaltbar.

© Sebastian Hoppe
© Sebastian Hoppe

Dabei wissen Regie und Ensemble sehr gut, was sie ihrem Publikum da zumuten: augenzwinkernd wird selbiges belehrt, dass, wer den Mittelteil nicht mag, ihn eben trotzdem aushalten muss und sich einlassen auf den Sound der Worte. Sollten wir die Szene jetzt nicht mal beenden?, fragt Torsten Ranft an anderer Stelle und bevor es ganz zu Ende geht will Viktor Tremmel von seinen Mitspielern wissen, ob sie denn nun noch etwas zu sagen hätten.

Da haben die Erniedrigten und Beleidigten die Leinwand schon ganz nah an die Rampe geschoben und drängen sich drumherum: Aus schwarz-weißen Pinselstrichen, fetten Spitzern, vielfachen Video-Übermalungen ist ein Kunstwerk geworden. Ein Gesicht, das ungläubig und doch wissend auf diese komische Welt guckt. Und auf uns. Dem Augenblick ein Schnippchen schlagend: dann doch ein konservierter Theatermoment.

Und ja, man möchte denen da oben des Öfteren zurufen: Haltet doch mal inne! Das ist ein Gebrüll und Gerenne, das jenen, die sich nicht vom Theaterbildersturm haben erfassen lassen, tierisch auf die Ketten gehen muss. Und auch das ist wahr – es ist bisweilen selbstreferentiell, eine um sich selbst kreisende Theatergalaxie. Aber eben auch eine bilderstürmende, sich selbst verausgabende, keine Rücksicht kennende Feier des (Theater)Spiels als Wesen des Lebens. Und natürlich, mit Poe: a dream within a dream.


» Erniedrigte und Beleidigte
nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewski unter Verwendung der Hamburger Poetikvorlesung von Wolfram Lotz.
Regie und Bühne Sebastian Hartmann. Kostüme Adriana Braga Peretzki. Bild/Installation Tilo Baumgärtel. Licht Lothar Baumgarte. Mit Luise Aschenbrenner, Eva Hüster, Moritz Kienemann, Torsten Ranft, Lukas Rüppel, Fanny Staffa, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi und Viktor Tremmel.

Next shows: 8., 21. und 29. April 2018, Staatsschauspiel Dresden

 

 

 

 

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