die gegenwart ist einfach nicht zu fassen – robert borgmanns kirschgarten in stuttgart

© JU Ostkreuz
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In kirschrotes Licht getaucht liegen sie am Boden. In einem sich nach hinten verjüngendem, kirchenhaften Raum, die Wände gemasert wie Birkenstämme. Barfuß, müde, aber gar nicht mal unbedingt unglücklich. Erst jeder allein, dann sucht einer die Nähe des Anderen. Von hinten steigt die Ranjewskaja langsam über die Leiber und durch die verstreuten Reste ihrer Gutsgesellschaft wie ein schuldiger Engel. Ein wunderbares Anfangs-End-Bild.

In Robert Borgmanns Stuttgarter Inszenierung ist Tschechows Kirschgarten am Ende, bevor er anfängt. Das Gut ist verkauft, die Bäume stehen kurz vor der Abholzung und den Ex-Gutsbesitzern in Spe bleibt nichts als die Abreise in eine ungewisse Zukunft. Man kann nicht den letzten Akt vor den ersten, die Auflösung vor den Konflikt stellen? Aber natürlich kann man. Wer im Publikum weiß denn bittschön nicht, wie die Sache ausgeht? Und – was noch viel mehr für eine Rückblende spricht – auch denen auf der Bühne ist klar, wie es enden wird.

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Weil das stolze Gut samt herrlichem Kirschgarten vor dem Ruin steht, ruft Tochter Anja die Mutter aus Paris zurück. Jene war vor den Erinnerungen an ihren toten Sohn vor Jahren dorthin geflüchtet. Die Ranjewskaja kommt mit ihrer Entourage , als die Obstbäume in voller Blüte stehen. Sehnlichst erwartet von den Daheimgebliebenen, allen voran dem früheren Leibeigenen Lopachin, der, gefangen in seiner Hassliebe zu dieser kaputten Familie, als einziger einen Marshallplan für den verschuldeten Besitz im Ärmel hat. Hört keiner drauf, klar.

Man könnte glauben, man lebte nur in der Vergangenheit. Die Gegenwart ist einfach nicht zu fassen. Kaum hat man sie, ist sie auch schon wieder vergangen!
-Leonid

Robert Borgmann, der auch für die Bühne verantwortlich ist, macht daraus zusammen mit Carsten Rüger an Licht und Video ein atemberaubendes, zeitlos-klassisch anmutendes und doch ganz modernes Bilder-Theater. Die lichten Farben wechseln so popartig von rot über grün zu blau wie die Stimmungen der Figuren. Ein Eisblock wird aufgefahren – zum Block gefrorene Zeit, die – aber ach, nichts währt ewig! – den Bühnenmenschen förmlich unter dem Hintern wegschmilzt. Nach der Pausen heben und senken sich die hohen Seitenwände, zwischen denen die Gesellschaft gefangen scheint, Lichtstraßen, Lichtlinien rasen ins Bühnendunkel, dunkelrote Theatervorhänge geben einen schmalen Blick auf einen einzelnen, opulenten Kirschbaum frei.

© JU Ostkreuz
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Besonders im furiosen dritten Akt wird – im Zusammenspiel von nun teilweise clownesken Kostümen, absurden Auf- und Abtritten und schönsten Schattenspielen zur Musik von Philipp Weber an Mikrofon und Gitarre – aus der ungeduldigen Warterei auf die Kunde vom Kirschgartenverkauf eine geisterhafte Feier des hektischen Stillstandes, auf der darüber hinaus auch so manche Maske fällt.

Dass sich die tschechowschen Menschen in diesem strengen Bilderreigen nicht verlieren, liegt zum  einen an der psychologisch-feinen Figurenzeichnung ohne jede Wir-tun-so-als-ob-Behauptung, vor allem aber am großartig aufspielenden Ensemble! Die reichlich drei Stunden fordern zwar durchaus ein gewisses Durchhaltevermögen, aber man ist doch in jeder Sekunde dran. Und das, obwohl wir mit der Ranjewskaja Astrid Meyerfeldts irgendwie nicht so richtig warm werden.

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Es ist doch eher der Lopachin Manuel Harders, der den Abend im Innersten zusammenhält. In jedem Moment scheint da hinter der kühl berechnenden Geschäftsmann-Fassade auch der unsichere, kleine Junge mit der blutigen Nase durch. Wunderbar verstörend die Charlotta Gina Henkels, herrlich manipulativ Julischka Eichels Warja. Elmar Roloff als alter Diener Firs und Peter René Lüdicke als Bruder Leonid liefern sich herrlich absurde Szenen von anrührender Komik. Und Birgit Unterweger legt als gealtertes Dienstmädchen Dunjascha einen tragikomischen Glanzauftritt nach dem anderen hin.

Wenn es doch endlich aufhören würde, dieses falsche Leben …

Das ist kein Tanz auf dem Vulkan, das ist viel mehr ein so leichter wie unausweichlicher (Spazier)gang in Richtung Abgrund. Eine Geschichte vom Vergessen (wollen) und Erinnern (müssen). Von langer Vergangenheit, kürzester Gegenwart und fraglicher Zukunft. Mit der einzigen Sicherheit, dass dem so beharrlichen Weil-nicht-sein-kann-was-nicht-sein-darf-Glauben zum Trotze nie etwas bleibt, wie es ist. Für die einen ein Trost, für die anderen eine Drohung. Für die Lopachins dieser Welt: vermutlich beides.


» Der Kirschgarten
Regie und Bühne: Robert Borgmann. Licht und Video: Carsten Rüger. Musik: Philipp Weber. Kostüme: Thea Hoffman-Axthelm. Besetzung: Manolo Bertling, Christian Czeremnych, Julischka Eichel, Manuel Harder, Gina Henkel, Robert Kuchenbuch, Anna Gesa-Raija Lappe, Peter René Lüdicke, Astrid Meyerfeldt, Wolfgang Michalek, Elmar Roloff und Birgit Unterweger

Nächste Vorstellungen: 30. April, 11., 14. und 26. Mai, Schauspiel Stuttgart

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