knietief im amalgam des kapitalozän – alex eisenach sucht am be nach europa

Kapital und Individuum, Welt und Europa, Geschichte und Utopie: Alexander Eisenach hat das, was ihn schon in seinen letzten Arbeiten umtrieb, jetzt in der Hauptstadt weitergedacht und jongliert - am Theater Bert Brechts und Heiner Müllers - assoziationsstark, pointiert und charmant mit verdammt vielen klugen Gedanken.

Die Entführung Europas/Berliner Ensemble © Julian Röder
Die Entführung Europas/Berliner Ensemble © Julian Röder

Die Blaupause für Die Entführung Europas, das neue Eisenachsche Gedanken-Spiel im besten Sinne, ist das Crime Noir. Eine (Privat)Detektivgeschichte aus einer Zeit, als der Zigarrenrauch noch ohne Warnhinweise durch die Lamellen der heruntergelassenen Jalousie waberte, Telefone Wählscheiben trugen und Schreibtische dazu da waren, den Whisky und die Pistole zu beherbergen. Hier ermittelt Privatdetektiv Messer, Max Messer (mit Zigarre, Hut, Weltschmerz und schriftstellerischen Ambitionen: Christian Kuchenbuch) in einem sehr speziellen Fall:

Denn schon Titel und Story-Setting sind Wort-Spiel voller Möglichkeiten und Untiefen: Europa ist verschwunden. Möglicherweise wurde sie entführt, wer weiß, vielleicht wusste sie zu viel. Oder hatte zu gefährliche Ideen für das geschichtsvergessene, kapitalhörige Zahnarzt-Syndicat ihres Gatten, das längst nicht mehr nur die Unterwelt beherrscht. Auf jeden Fall ist sie weg und wird dabei doch dringend gebraucht: Privatdetektiv Max Messer macht sich auf eine Suche, die ihn ins Herz Afrikas oder wahlweise der Finsternis führt.

In diese Detektiv-Geschichte mixt der Autor und Regisseur seine Gedanken zur Lage der Welt, ein bisschen Joseph Conrad, ein bisschen mehr Walter Benjamin, ein paar Volksbühnen-Hints und vor allem viel viel Heiner Müller. Schon der Name des Detektivs ist beim Meister selbst entliehen: Ein Pseudonym, unter dem Müller einen Krimi veröffentlichte, nachdem er 1961 wegen zu gefährlicher Ideen bei einem anderen und sehr offiziellen Syndicat in Ungnade gefallen war. Ein Pseudonym, welches wiederum auf Brechts Macheath verweist, der allenthalben …

Die Entführung Europas/Berliner Ensemble © Julian Röder
Die Entführung Europas/Berliner Ensemble © Julian Röder

Und genauso funktioniert der ganze Abend: Ein Trip kreuz und quer durch alle möglichen Zeit- und Deutungsebenen, weil sich Geschichte eben nicht linear erzählen lässt: aus Messers Büro geht es kurz um Mommsens Block und dann – nach ein paar höchstamüsanten Volksbühnen-Zitaten und -Seitenhieben – per Fahrstuhl – aber ohne Auftrag – mitten hinein ins Herz der Finsternis, wo der Engel der Geschichte wartet und die gesuchte Europa von ihrer eigenen, dunklen Seite festgehalten wird. Im schwärzesten Kongo sind wir da gelandet, sozusagen auf der Kehrseite unserer westlichen Welt, wo die Gedanken genau so finster sind wie die Aussichten.

… irgendwann wurde es existentiell

Verhandelt wird unser Umgang mit der Geschichte, oder besser: das Verdrängen derselben zugunsten des reibungslosen Funktionierens in einer Gegenwart, in der jeder seines Glückes Schmied ist und ergo für das eigene Scheitern auch ganz allein verantwortlich. Geschichte? Brauchen wir nicht: Syndicatsboss-Zahnarzt Kingsby (Peter Moltzen) steht knietief im Amalgan und versucht mit diesem Gift die Löcher der Vergangenheit zu stopfen, während die Zeit schon am nächsten Zahn frisst wie Karies. Am besten – das wird jetzt wehtun! – gleich alles raus!

Bei all den geschlagenen Volten und Überschreibungen vergisst der Abend dann auch schon mal seinen doch so grandios aufgemachten Krimi-Plot: Mitnichten sind Crime und Europa hier so verzahnt wie Kapital und High Noon, Marx und May im » Frankfurter Finanzwestern. Aber – Zitat, Zitat, Kartoffelsalat – eine schöne Überforderung ist das Ganze auf jeden Fall. Immer wieder überraschend, kurzweilig, auch mal einen Tick zu eindeutig, aber trotz der Fülle nie beliebig. Es ist ein ziemlicher Spaß, dieser leichtfüssigen Denkmaterialschlacht nebst Zitatwettlauf zu folgen.

Und was der Text da ver- und entwirrt, dass machen Licht, Sound und Video ästhetisch erfahrbar. Schon die Bühne an sich hat zwei Spiel-Ebenen, darauf legen Videoprojektionen flugs noch eins zwei drei Dimensionen und lassen Bilder und Figuren, Räume und Close-Ups über-, in- und gegeneinanderlaufen. Aus halbseiden wird halbtransparent, aus nebulös wieder der Durchblick: Hut ab vor der Videoregie!

Die Entführung Europas/Berliner Ensemble © Julian Röder
Die Entführung Europas/Berliner Ensemble © Julian Röder

Die macht auch das geniale Doppelspiel von Stephanie Eidt möglich, die als neue(s) Europa in hoffnungsvollster, aber ergebnisloser Zwiesprache versucht, ihr alter Ego aus den Verstrickungen der Vergangenheit zu lösen. Überhaupt sind es natürlich auch hier die Spieler, die dem Text Leben einhauchen: Herrlich komisch Peter Moltzen als rabiater Zahnklempner und Syndicats-Magnat Kingsby, groß Kathrin Wehlisch, die als Margaret, so etwas wie die Verlegerin des schreibenden Detektivs oder vielleicht besser die M von 00-Messer ist. Und Christian Kuchenbuch, der seinem – meine Geschichte findet hier nicht statt – resignierten Privatschnüffler zur Black-and-White-Coolness eine große Verletztheit mitgibt – man kann sich gar nicht entscheiden, ob man ihn jetzt lieber in einem echten Film Noir auf der Leinwand sähe oder ihm als Barkeeper des Vertrauens ein paar Whiskys einschenken möchte. Vielleicht in der Reihenfolge.

Die Zukunft können wir nicht mehr den Menschen überlassen

Ein unterhaltender, gedankenreicher Abend – mit viel Raum zum Weiterdenken: Wie kriegen wir denn jetzt mit dieser unserer Vergangenheit eine Zukunft hin? Kann es überhaupt eine bessere Welt geben? Weshalb liegt bei Max Messer eigentlich das Hirn auf dem Schreibtisch? Und warum in Gottes Namen hat sich die schöne und kluge Europa mit diesem schmierigen Zahnarzt eingelassen?


» Die Entführung Europas
Text und Regie: Alexander Eisenach. Bühne: Daniel Wollenzin. Kostüme: Lena Schmid und Pia Diederichs. Musik: Sven Michelson. Video: Mareike Trillhaas. Licht: Steffen Heinke. Mit Christian Kuchenbuch, Stephanie Eidt, Kathrin Wehlisch, Peter Moltzen und Laurence Rupp

Nächste Termine: 30. und 31, Oktober, 10. – 13. November, Berliner Ensemble

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