schlafen könn‘ wir, wenn wir tot sind – chelsea hotel rockt stuttgart

Sex, Drugs und all die großen Songs: Überaus passend genau am 70. Geburtstag Iggy Pops sind wir in die Stuttgarter Dependance des weltberühmten New Yorker Hotels eingecheckt. Und fanden dort eine super Band, illustre Gäste, irre laute Gitarren und reichlich Glitzer über tiefen Abgründen. Berauscht euch!

© Bettina Stöß
© Bettina Stöß

Here’s Room 506, it’s enough to make you sick … Ein Telefonbuch mit weißen Seiten, kein Anschluss unter dieser Nummer – in einer Filmkulisse wähnt sich Manuel Harder, der die Szenerie in einem raumanzugähnlichem Dress durchsteigt wie auf Entdeckungstour in einer unbekannten, fernen Welt. Was ist Fake, was ist echt? Oder: Was ist wahr und was Legende im Chelsea Hotel?

Auch die anderen Musiker und Schauspieler stecken zunächst unter schrägen Hüten und Brillen wie from outer space, bevor sie sich zu den ersten fetten Gitarrenklängen in ihre berühmt-berüchtigten Alter Egos verwandeln. Waren doch die Zimmer des Chelsea Zuflucht für unzählige Maler, Schriftsteller und Musiker …

… wie ein Puppenhaus in der Twilight Zone, mit Hunderten von Zimmern, von denen jedes ein eigenes kleines Universum barg.
-Patti Smith

… wie Arthur Miller, Burroughs, Ginsberg, Nico, Janis und Jimi; Patti Smith und Leonard Cohen. Oder Bob Dylan, der hier seine Sad Eyed Lady (die zu hören sein wird) schrieb; Jack Kerouac, dessen On the Road im Chelsea entstand. Dylan Thomas schrieb hier nicht nur seine letzten Zeilen, er tat auch seinen letzten Atemzug an Ort und Stelle.

In der Vorlage für diesen musikalischen Abend kidnapped Patti Smith Sam Shepard und hält ihn in einem Hotelzimmer gefangen. Und ebenso seltsam freiwillig-unfreiwillig hocken die Chelsea Girls & Boys hier auf der an schrägen Details nicht armen Bühne zwischen Badewanne, Trockenhaube, Klavier und Plattenspieler. Sie feiern den Rausch, die Träume und die Freiheit und sind doch gefangen in ihren Lieben, in LSD-Trips, in sich selbst. Sie singen mit hohen, mit brechenden, mit kräftigen und zarten, mit rauchigen Stimmen die ewigen Songs und flimmern als sexy Chelsea-Heros in black & white über die Zimmerwände. Sie tanzen auf all den vergangenen und selbstredend auch auf All Tomorrows Parties.

© Bettina Stöß
© Bettina Stöß

Wer hat Liebe, Sex und die Träume monopolisiert?

Nicht nur, wenn Manuel Harder vom Raum-und-Zeitreisenden zum Hummer-Mann im Abendkleid zum Adam Michelangelos zum Tellschen Jungen wird, der statt des Apfels eine Banane vom Kopf geschossen bekommt – die Velvet-Underground-Version, sozusagen ;) – kann man sich aufs Herrlichste verirren im bühnennebligen Assoziations-Dickicht. Birgit Unterweger wechselt vom irren Stakkato bei der Verteidung der unbedingten Einheit von Körper und Seele hinüber zur so wunderschön traurigen Dylan’schen Sad Eyed Lady.

© Bettina Stöß
© Bettina Stöß

Hanna Plaß, die zusammen mit dem Gitarristen Max Braun auch die musikalische Leitung innehat, ist in jeder Sekunde die übersprudelnde Spielfreude in Person, es hält sie sichtlich ebenso schwer auf dem Klavierhocker wie die Rezensentin auf dem Theaterstuhl. Wie herrlich ihre Version von John Cales Paris 1919 und wie zauberhaft fein-und -sinnig die Duette mit Grand­ Sei­g­neur Elmar Roloff.

You’re a ghost …
I’m in the church and I’ve come
To claim you with my iron drum

In diesem Chelsea Hotel hätten wir uns gern länger als eine Nacht eingemietet. Mit einem kraftvoll-schrägen, gern auch mal sperrigen Zugriff, und super Musikern (gern auch mal laut bis an die Schmerzgrenze), setzt dieser Abend Rausch, Genie und Wahnsinn gegen die Political Correctness unserer cleanen, ach so gesunden und vernünftigen Welt. Mit Witz und (Hinter)Sinn kippt er Glitzer über die tiefsten Abgründe – wohlwissend, dass echte Freiheit auch das Recht einschließen muss, sich selbst zugrunde richten zu dürfen.

© Bettina Stöß
© Bettina Stöß

It’s all right
But if you got to go, go now
Or else you gotta stay all night

Leute, rein da! Und nehmt doch bitte die (gratis verteilten) Stöpsel aus den Ohren, es ist schon schlimm genug, dass man auf seinem Stuhl hocken bleiben muss ;)!


» Chelsea Hotel
Regie: Sébastien Jacobi. Musikalische Leitung: Max Braun und Hanna Plaß. Bühne: Julian Marbach. Kostüme: Cinzia Fossati. Mit: Manuel Harder, Marietta Meguid, Hanna Plaß, Elmar Roloff, Birgit Unterweger, Max Braun, Joscha Glass und Johann Polzer (Live-Musik).

Wieder am 4., 5. und 6. Mai, Schauspiel Stuttgart, Kammertheater

2 Comments

Add Yours
  1. 1
    miss laine

    Ein besonderer Abend, lieber Jochen, das finden wir auch! Und wir haben auch tatsächlich schon nach einem Mitschnitt gefragt. Leider gibt es nach letztem Stand bislang aber keinen und nun verlassen ja auch drei Chelsea-Spieler das Ensemble. Aber man soll bekanntlich die Hoffnung nie aufgeben.

  2. 2
    Jochen

    …ob es wohl die Möglichkeit gibt, eine Aufzeichnung, einen Mitschnitt, einen „Soundtrack“ irgendwann irgendwo einmal bekommen zu können? – Drei Mal war ich drin, Jedes Mal war einzigartig. Und hätte ich noch drei weitere Aufführungen besucht, es hätte jedes einzelne Mal wieder Neues zu entdecken und zu erleben gegeben. Zu schade, dass gestern der „Schaum der Tage“ gleichzeitig auf dem Programm stand und ich so die allerletzte Gelegenheit doch noch versäumt habe. „Chelsea Hotel“ ist – war – einzigartig. Und es wird in dieser Form sicherlich niemals wiederaufgenommen werden können. – Wie schön wäre es da, in die Musik eines dieser Abende „per Konserve“ in besonderen Momenten wieder eintauchen zu können!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert