Wir befinden uns in einer Trauerfeier: Die Bühne wird von einem großen Podest eingenommen, auf dem das Orchester Platz nimmt. Auf den vorderen Reihen im Saal sitzt der Chor, jedes Chormitglied trägt eine Urne. Diese grundlegende Bühnenanordnung bleibt unverändert, lediglich die Solisten verändern innerhalb der drei Akte ihr Auftreten. Für jeden Akt wurde ein eigenes Bild geschaffen. Zu Beginn sitzen die Solisten auf der Bühne und halten ebenfalls Urnen in den Händen. Einer der Sänger betritt ein Rednerpult und fordert das Publikum auf, sich zu erheben.
Wir hören Brecht, der sein Gedicht „An die Nachgeborenen“ spricht. Dann beginnt die Musik, Regieanweisungen und gesprochener Text werden als Trauerrede vom Pult aus vorgetragen, unterbrochen von den Arien oder den Liedern des Chores. Die eigentliche Handlung kann man zwar im Text nachverfolgen, aber sie wird nicht gespielt. Wer oder was eigentlich betrauert wird, bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen. Vielleicht schon Jim Mahoney, der am Ende hingerichtet wird? Oder die Utopie einer anderen Gesellschaft, die Brecht und Weill vielleicht hatten, die aber heute nicht mehr lebendig ist?
Gegen Ende des 1. Aktes zieht ein Hurrikan herauf und bedroht die Stadt. Zum Gesetz der menschlichen Glückseligkeit werden nun die Worte „Du darfst“, auch als der Hurrikan die Stadt verschont. Für den nun beginnenden 2. Akt wechseln die Solisten von der Bühne in einen Raum, der sich unter dem Orchesterpodest befindet. Die festliche Trauerkleidung wird durch bunte Kostüme ersetzt und man frönt den Lastern Mahagonnys: Fressen, Saufen, Boxen und dem Liebesakt.
Was nun passiert wird für das Publikum nur per Kameraauge in einem psychedelisch verfremdeten Videoclip sichtbar. Die sich unter den Zuschauern langsam ausbreitende Langeweile ist beabsichtigt: Käufliche Genüsse werden in ihrer Wiederholung schnell langweilig und müssen deshalb ständige Steigerung erfahren, so sinnlos sie auch sein mögen. In dieser Konsumwelt übertritt Jim Mahoney das wichtigste Gesetz: Es ist verboten, kein Geld zu haben. Der 3. Akt zeigt dann den Prozeß und die Hinrichtung Mahoneys. Die Sängerinnen und Sänger kriechen aus den Katakomben hervor, haben sich zu ihren trashigen Klamotten auch noch mit Folie umwickelt, damit allerlei Spielzeuge am Körper befestigt.
Zudem ist jeder mit Spielzeug-Waffen versehen: Der Kampf jeder gegen jeden kann beginnen, der schließlich im Fall der Stadt Mahagonny endet. Nur Jim Mahoney erscheint seltsam unbeteiligt am absurden Geschehen um ihn herum. Er scheint wieder in die Trauerstimmung des Anfangs zurückzufallen, doch es bleibt unklar, ob er schon seinen eigenen Tod betrauert oder den Verlust jeglicher Moral in dieser Welt, in der
… es nichts gibt, woran man sich halten kann.
Der Sonntagsnachmittagsvorstellung, die ich gesehen habe, schloß sich ein Nachgespräch an, an dem sich nicht nur der Regisseur und die Dramaturgin (Jeanne Bindernagel) vorstellten, sondern zu dem auch Günther Heeg (Brecht-Forscher vom Leipziger Institut für Theaterwissenschaft) und Clemens Birnbaum (ehemaliger Intendant des Kurt-Weill-Fests Dessau) anwesend waren. Dem durchaus vorhandenen Redebedarf des Publikums kam das entgegen. An der Oper Halle weiß man offensichtlich, daß sich so mancher Besucher einer modernen Inszenierung Erklärungen wünscht. Wenn das immer so gemacht wird wie an diesem Tag, sollte man auch Erfolg haben: Offen für Kritik, aber auch in der Lage, das Regiekonzept schlüssig zu erklären. Auch wenn ich bisher nur eine Opernaufführung gesehen habe, scheint es mir doch so, als ob man in Halle auf einem guten Weg ist.
» Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny an der Oper Halle