tote engel, höchstlebendig. jürgen kruse ist mit schauergeschichten zurück in berlin

Kruse is back in Berlin. Er hat - nicht zum ersten Mal - das "Missverständnis" von Camus am Wickel und macht daraus am Deutschen Theater ein lustvoll-böses Schauermärchen.

Wie es sich gehört, ist es dazu ziemlich düster in den Kammerspielen (Die Kritikerin sieht die Buchstaben auf dem Notizblock kaum). Und natürlich steht eine herrliche Menge Zeug rum auf Volker Hintermeiers Bühne – die durch den Gazevorhang zunächst mehr zu erahnen als zu erkennen ist.

Ist zumindest das Zimmer frei? @ Arno Declair
Ist hier zumindest das Zimmer frei? @ Arno Declair

Ein Absperrband trennt Zuschauerraum und Bühne und markiert den Ort gleich als Camus’sche Crime Scene. Hier warten Mutter und Tochter in ihrer abgelegendsten Pension auf einsame Reisende, um sie um Hab und Gut zu bringen und auf den Grund des Flusses zu versenken. Wobei – eigentlich wartet die Mutter auf die letzte Ruhe und die Tochter auf ihr Leben. Und beide auf den verlorenen Sohn bzw. Bruder. Als der nach sehr knapp 20 Jahren tatsächlich heimkehrt, erkennen sie ihn nicht (wobei man das bei Linda Pöppels Tochter nicht mit Gewissheit sagen kann) – der Langerwartete wird das letzte Opfer der beiden in den eigenen Sehnsüchten gefangenen Frauen. Der Sohn hingegen sucht nach dem längst verlorenen Zuhause seiner Jugend und findet: den Tod. Alles ein Missverirrtum, wie es hier schön verquer heißt.

Oh, the wind, the wind is blowing,
through the graves the wind is blowing,
freedom soon will come;
then we’ll come from the shadows.

Ein Empfangstresen, ein Leuchtglobus, eine Jukebox, eine Batterie grüner Flaschen, ein Hackklotz, zwei übergroße Hände, die an gen Himmel weisenden Zeigefingern Blinden-Ringe tragen. Wie zufällig gestreut und alles doch genau dort, wo es hingehört. Mittendrin fegt ein stummer Magier den Boden. Nein: während der verlorene Sohn heim-kehrt, kehrt er das Heim. Wie Sisyphos schiebt er stetig die immer gleichen Strohhaufen von links nach rechts und wieder nach links über die Bühne. Und Camus‘ Betrachtungen zu eben jenem Sisyphos folgend, müssen wir ihn uns als glücklichen Menschen vorstellen – als jemanden, der aus der Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Lebens eine neue Freiheit gewinnt. Eine Wortbildhauerei zum Thema nutzlose Sinnsuche in einer absurden Welt ist. Sinnlos? Vielleicht. Dafür aber überaus sinnlich.

© Arno Declair
© Arno Declair

Geisterwesen bevölkern den Raum, ein gemeiner Spuk, getriebene Unwesen an Unorten, die der Welt abhanden gekommen sind. Existentialmus! wirft der ansonsten stumme Diener Jürgen Huth ab und an mit stoischer Ruhe in den Raum wie Alexandra Finder als so an-wie abwesende Braut die Tischtennisbälle.

Manuel Harder gibt mit dem Heimkehrer Jan seinen Einstand am Deutschen Theater wie dereinst mit Borcherts Beckmann am Schauspiel Frankfurt. Er und Linda Pöppel sind mittlerweile das Dreamteam im Kruseversum. Pöppel als eine femme macabre voller Sehnsucht und doch längst resigniert, manipulativ, eiskaltes Blut. Harder hemdsärmelig ganz naiv-leicht und im gleichen Moment von einer Weltklugheit, die schon alles gesehen hat. Beide mit Worten fechtend, mit sich und der Sprache spielend – die sie lustvoll dehnen, auf den Worten kauen und sie sich vor die Füße spucken, spitzfindigekluge Assoziationswirbel tanzen lassen, dass es einem ganz schwummerig wird … Herrlich!

Vom Himmel auf die Erden
falln sich die Engel tot

Dazu die alten Songs aus dem Plattenzauberkoffer des Rock’n’Roll-Ausnahmeregisseurs. Biermann ist heuer dabei (der 89 auch heimkehrte in ein Land, dass es schon nicht mehr gab), Cohen, John Lennon. Und eine schauerliche deutsche Version von Mr. Tambourine Man, die wohl Drafi Deutscher verbrochen hat. Ein Spieler eben, dieser Kruse. Einer, der alle Saiten des Instruments Theater zupft, streicht, gern auch mal zerreißt. Ein Komponist seiner Abende. Und am Ende ist aus tausend dahingestreuten Einzelhaftheiten (wie es an einer anderen Stelle wiederum schön verquer heißt) wieder ein Ganzes entstanden, das so viel mehr ist als die Summe seiner Teile. Zauberei.

© Arno Declair
© Arno Declair

Dennoch: der Abend wirkt loser, unfertiger als gewohnt. Dieses schwer zu beschreibende Etwas, das einen geradezu hineinsaugt in die Bühnenwelt, saugt hier etwas minder kräftig. Vor allem im zweiten, schwärzeren, existentielleren Teil. Statt der Worte und Wortspiele dehnen sich dann auch schon mal die Minuten. Der Sohn ist hinüber, es fehlen die Pöppel-Harder-Homeruns. Das Flirren scheint schwächer, das feine Schwingen der verschiedenen Ebenen. Vielleicht ist’s ja aber auch nur der Flow, der am Premierenabend noch nicht ganz greift. Wir werden das wohl noch mal checken müssen ;-).

Be that as it may. Verdammt gut, dass es neben der heute oft so durchgestylten und abwischbaren Ästhetiken und den überstrapazierten Befindlichkeitstextteppichen noch solche Schauermärchenerzähler und Weltenerfinder gibt, die ihre Seele(n) immer wieder aufs Neue durch schaurig-komische und dunkel funkelnde Wimmelbilder irrlichtern lassen. Eine Welt in der Welt und beide aus den Fugen. Existentialismus? Existenzialismus!

Nachtrag: Der Zuschauer, der sich einlassen mag auf diese Welten und sie immer wieder aufs Neue hört-sieht-riecht-fühlt-denkt – wir müssen ihn uns als einen glücklichen Menschen vorstellen.


» Das Missverständnis
Co-Regie Jürgen Kruse. Bühne Volker Hintermeier. Kostüme Sophie Leypold. Licht Thomas Langguth.
Mit Manuel Harder, Linda Pöppel, Barbara Schnitzler Alexandra Finder und Jürgen Huth.
Next shows: 6., 16. und 25. Dezember

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