treffen sich wagner, marx und ein braunkohlebaggerfahrer im paradieschen – clemens meyer im operncafé halle

„Live und improvisiert“ war das Motto der „Stallgespräche“, einer Reihe, die Clemens Meyer und der Dramaturg Johannes Kirsten einst am Leipziger Centraltheater aus der Taufe gehoben haben. Mit einer Mischung aus Talk-Show und Theater-Performance beschäftigte man sich mit unterschiedlichsten Themen. Selbiges Motto könnte auch über Abend stehen, den Clemens Meyer und Johannes Kirsten zusammen mit dem Musiker Enrico Meyer gestern für die Hallenser Operncafé-Reihe „Das Kunstwerk der Zukunft“ gestaltet haben: "Der Herr der Nibelungen oder mein Schatz gehört dem Volk". Und ein waschechter Baggerfahrer war auch dabei.

Kunstwerkbastelstunde mit Clemens Meyer. Foto: Anna Kolata
Kunstwerkbastelstunde mit Clemens Meyer. Foto: Anna Kolata

Clemens Meyer sitzt auf der Bühne und bastelt. Aber wird das auch das Kunstwerk der Zukunft? Nein, winkt er ab, das wäre doch Unsinn. Er beschäftigt sich mit handfesteren Dingen. Mit Hilfe einer Heißklebepistole, die nicht nur so heißt, sondern tatsächlich heiß ist, will er aus einem Modellbausatz den Panzer V Panther bauen, ein Gefährt der Wehrmacht im 2. Weltkrieg. Für diesen Modellbausatz muss man nicht im Internet nach dubiosen Händlern suchen, die Nazidevotionalien verkaufen, nein, man kann ihn in der Bahnhofsbuchhandlung kaufen. Natürlich nur für technikbegeisterte Bastler – Nazisymbole findet man im Bausatz nicht.

Was hat nun dieser Bausatz der Vergangenheit mit dem Kunstwerk der Zukunft zu tun? Die Reihe an der Oper Halle trägt den Untertitel „Inszenierungsreihe nach Richard Wagner und Karl Marx“ und das Duo Meyer/Kirsten nennt seinen Abend „Der Herr der Nibelungen oder Mein Schatz gehört dem Volk“. Ein weites Feld also, das noch weiter wird, weil Clemens Meyer behauptet, sich versehentlich auf eine Veranstaltung zum Thema Karl May vorbereitet zu haben. An der Bastelei verliert er dann doch schnell die Lust und macht weiter mit dem, was er besonders gut kann: Unter Nutzung diverser Quellen  – Bücher wie „Marx lesen“ von Robert Kurz, „Gesamtkunstwerk Stalin“ von Boris Groys oder „Festung“ von Rainald Goetz liegen auf dem Tisch – assoziiert er, dass das Zuhören eine wahre Lust ist.

Da geht es natürlich um Wagners Ring, die Rolle von Alberich wird neu interpretiert, denn der hätte mit Hilfe des Rheingolds das Danziger Goldwasser erfunden. Oder war das doch Günter Grass? Und was versteht man darunter, sich das Paradieschen von unten anzusehen? Schnee fällt auf sieben Zwerge, Walhalla wird zu einem Saal aus Eis, in dem Breivik und Beate wohnen, Siegmund (doch nicht etwa Jähn?) paart sich mit Orlando und Rheingold wird über Kain- zum Abelgold. Wer Meyers Frankfurter Poetikvorlesungen zur Äkschn GmbH kennt, kann sich ungefähr vorstellen, wie kreativ der Autor auch in seiner Theaterperformance mit Worten umgeht, zwischen Themen und Gedanken umherspringt – nach eigenen Worten inspiriert vom Radiosender MDR Jump – und so Themen in Beziehung bringt, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben: Wagner und Marx zum Beispiel.

Denn in der Kantine wartet schon der Gesprächsgast des Abends, der ehemalige Braunkohlebaggerfahrer Frank Hankel, der dereinst auch bei der Centraltheaterproduktion „Braune Kohle“ dabei war. Nun wird der Abend im wahrsten Sinne des Wortes geerdet, Clemens Meyer wird zum Stichwortgeber für den Baggerfahrer, der davon berichtet, wie sich sein Bagger in den Abraum oder die Kohle fraß, wie dabei auch Dörfer und Heimat zerstört wurde und wie die harten Männer des Bergbaus doch erst dann weinten, als sie nach der Stillegung vieler Tagebaue Anfang der 90er Jahre ihre Förderbrücke und damit die Grundlage ihrer Erwerbsarbeit mit dem Schneidbrenner selbst zerlegen mussten.

Vom allgegenwärtigen Kohlestaub ist genauso die Rede wie vom guten Geld, das ein Baggerfahrer verdiente, manchmal mehr als der Meister, der eigentlich der Vorgesetzte war. Da ist der Abend nah dran am Marx’schen Proletariat. Doch das gibt es nur, so lange Bier getrunken wird. Der Knall des Sektkorkens ist der Tod des Proletariats – postuliert Meyer und trägt beim Knallen eines solchen fast selbst einen Ohrenschaden davon. Neben Sekt gibt es dann auch Lindt-Schokolade, wobei die Frage, ob die nun etwas mit dem Lind(t)wurm zu tun hat, ungeklärt bleibt.

Meyers Wortkaskaden werden musikalisch unterstützt von Schlagzeuger Ivo Nitschke und Opernsänger Vladislav Solodyagin. Auch wenn vielleicht nicht das Kunstwerk der Zukunft entstanden ist, Kunst konnte der Besucher wieder einmal ganz live und improvisiert erleben. Das Wiederkommen zur zweiten Ausgabe am 4. April wird sich lohnen, denn diese wird dann sicher ganz anders, aber auf jeden Fall live improvisiert.

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