verstörender schwanengesang bei der euro-scene

Die Gastspiele der Socìetas Raffaello Sanzio bei der euro-scene waren stets etwas Besonderes – ungewöhnliche, unerwartete, verstörende Inszenierungen. „Schwanengesang D744“ reiht sich in diese Tradition ein.

Es beginnt ganz so, als würde wirklich ein Schubert-Liederabend geboten. Der Pianist (Alain Franco) betritt den Raum, dann kommt die Sängerin (Kerstin Avemo) auf die große leere Bühne, positioniert sich in einem Lichtkegel und beginnt zu singen, Schuberts Lieder, die voller Melancholie, Trauer und Schmerz sind.

Schwanengesang D744 © Christophe Raynaud de Lage
Schwanengesang D744 © Christophe Raynaud de Lage

Nach und nach passieren unerwartete Dinge. Die Sängerin gebietet per Handzeichen Einhalt, muss pausieren, bricht in Tränen aus, tritt aus dem Lichtkegel, wendet schließlich dem Publikum den Rücken und geht bis an den hinteren Bühnenrand, dabei immer noch singend. Ganz offensichtlich ist sie vom Schmerz, den die Lieder ausdrücken, überwältigt. Ich fühle mich an Hamlets Zusammentreffen mit den Schauspielern erinnert, als er sich angesichts der Emotionen im Spiel fragt „Was ist ihm Hekuba… dass er um sie sollt weinen?“ Auch hier weint die Sängerin, obwohl sie nur einen Text, mit dem sie doch gar nichts zu tun hat, darbietet.

Dann wandelt sich die Szene. Ein zweite Frau betritt die Bühne, die Sängerin geht ab. Die Schauspielerin (Valérie Dréville) setzt die Interpretation der Schwanengesang-Texte fort, nun nicht mehr singend (auch der Pianist hat den Raum verlassen), sondern sprechend, vom Publikum abgewandt und sich offensichtlich ganz allein fühlend – ein intimer Moment des Schmerzes und der Klage. Sie ist erschrocken, als sie sich zum Publikum wendet – Was wollt ihr hier? Was wollt ihr sehen? Ihr Erstaunen wandelt sich in Verärgerung, die in harsche Beschimpfung mündet – ihr Schweine, ihr Arschlöcher. Schließlich bricht sie weinend zusammen. Die Bühne wird nun dunkel und dann mehrfach für nur Bruchteile von Sekunden schlaglichtartig erhellt. Wir sehen dann für einen Moment die Frau, erst noch weinend am Boden hockend, dann eine Maske tragend, die eine gehörnte Figur darstellt. Dann erhebt sie sich, scheint erst jetzt das Geschehene zu begreifen und entschuldigt sich beim Publikum.

Ein seltsamer Abend, man kann nicht von enttäuschten Erwartungen sprechen, denn die einzige Erwartung, die ich hatte, war die, dass es eben kein „normaler“ Liederabend werden würde. Es wurde ein Abend über grundlegende Fragen des Theaters, auf verstörende Art und Weise dargestellt. Was bedeutet es, Schmerz und Trauer auf der Bühne zu zeigen? Wie weit kann sich der Schauspieler in diese Gefühle hineinversetzen, was fühlt er dann selber und wie kann er es ertragen, diese Gefühle vor der schweigenden Menge des Publikums auszustellen?

Zu diesen Überlegungen passen folgende Sätze, die Franz Schubert 1824 in seinem Tagebuch notierte: „Keiner, der den Schmerz des andern, und keiner, der die Freude des andern versteht! Man glaubt immer, zueinander zu gehen, und man geht immer nur nebeneinander.“

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