der nackte wahnsinn – nachgedanken

Der aktuelle Theater-„Wahnsinn“ hat unserem Autor Thomas Pannicke keine Ruhe gelassen, gingen doch die Meinungen zu Centraltheater-Inszenierungen lange nicht mehr so weit auseinander wie an und zu diesem Premierenabend. Wir veröffentlichen gern seine bereichernden Gedanken zu Stück und Aufführung, Schauspieler und Rolle, Shakespeare und Hartmann.

Nackter Wahnsinn - Was ihr wollt. (c) David Baltzer / bildbuehne.de
Die Eröffnung | Nackter Wahnsinn – Was ihr wollt. (c) David Baltzer / bildbuehne.de

Als Shakespeareaner und bekennender Kruse-Fan war ich sehr erfreut, dass Jürgen Kruse „Was ihr wollt“ inszenieren sollte. Als dann Anfang Oktober die Nachricht kam, dass Sebastian Hartmann die Regie übernimmt, dürfte jedem halbwegs Theaterinteressierten klar gewesen sein, dass es sich nicht um eine Fortsetzung der Kruse-Arbeit handeln wird. Hartmann übernahm das Bühnenbild, der Kreis der Darsteller wurde erweitert – etwas Neues war im Entstehen. Das nur als Bemerkung an diejenigen, die noch darüber nachdenken, wie viel Kruse in diesem Abend steckt. In den Kritiken wird auch darauf hingewiesen, dass möglicherweise im Publikum Zuschauer saßen, die sich einen Shakespeare-Abend erhofft hatten. Allerdings war die Etikettierung des Abends (man blicke auf die Plakate oder das Programmheft) nun so eindeutig, dass von Etikettenschwindel keine Rede sein kann.

WAS IHR WOLLT – MELANCHOLIE UND KLAMAUK

Nun ist „Was ihr wollt“ eine der häufig gespielten Shakespeare-Komödien und war auch am Leipziger Schauspiel erst vor sechs Jahren zu sehen. Ich habe etliche Inszenierungen gesehen, manche betonten eher die komisch-klamaukige Seite des Stücks, andere die Melancholie, die ihm innewohnt.

Es ist wie so oft bei Shakespeare: Der Text bietet Material für ganz unterschiedliche Inszenierungen. Nehmen wir z.B. Malvolio, der auch am Sonnabend kurz auftauchte und den man sehr oft als komisches Objekt des Spotts dargestellt sieht. Seine letzten Worte sind „I ’ll be reveng’d on the whole pack of you.” Das kann man durchaus als prophetischen Hinweis Shakespeares auf die kommende Machtübernahme der Puritaner lesen. Was das mit dem Hartmann-Abend im CT zu tun hat? Natürlich nichts, zwar haben die Puritaner unter Cromwell die Theater in England schließen lassen, in Leipzig blüht dieses Schicksal ja erstmal nur der Skala. Doch zurück zum Stück. Neben dem politischen Aspekt ist „Was ihr wollt“ wie so manch anderes Shakespeare-Drama eines, in dem am Ende die Frauen ihre Männer bekommen, aber damit alles andere als gut bedient sind. Olivia bekommt Sebastian und Viola Orsino und man kann durchaus behaupten, dass damit das Stück für die beiden eher als Tragödie denn als Komödie endet.

Damit sei nur angedeutet, was mit dem „Was ihr wollt“-Text möglich ist. Doch gerade, weil so viel darin steckt, kann der Regisseur letztendlich nur scheitern, weil sich immer einer finden wird, der sagt, dass dieser oder jener Aspekt des Stücks in der Inszenierung unberücksichtigt blieb. Doch vorm Scheitern sollte man nicht zurückschrecken: mit dem Slogan „Scheitern als Chance“ zog einst Christoph Schlingensief in den Bundestagswahlkampf und bei Beckett heißt es „Ever tried, ever failed, no matter, try again, fail again, fail better.“

ROLLENSPIELEREI UND SCHEITERN AN SHAKESPEARE

Doch nun zu dem zurück, was zur Premiere zu sehen war. Wie bei einigen anderen Shakespeare-Stücken, aber selten so ausgiebig wie in „Was ihr wollt“, ist hier das Thema „Spielen einer Rolle“ von Bedeutung. Die schiffbrüchige Viola schlüpft in die Rolle eines Mannes – Cesarios – zunächst, um sich selbst zu schützen. In dieser Rolle tritt sie in die Figurenkonstellation Olivia-Orsino, woraufhin sich Olivia in Cesario und Viola in Orsino verlieben. Und eben die Problematik des Eine-Rolle-Spielens ist es, die Sebastian Hartmann hier besonders interessiert. (Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang übrigens das Programmheft und die ihm beiliegenden Losen Blätter Nr. 5.) Für einen Theatermann ist das Thema nicht allzu weit hergeholt, Nina May wirft Hartmann in ihrer LVZ-Kritik vor, dass der Abend sehr selbstreferentiell wäre. Aber die Frage des Rollespielens betrifft wohl trotzdem uns alle. Sind wir denn immer wir selbst oder spielen wir nicht sehr oft eine Rolle, so manches Mal auch eine, die wir eigentlich nicht wirklich spielen wollen?

Diese Frage dekliniert Sebastian Hartmann in dieser Inszenierung ausgiebig durch. Dies und die Problematik des Scheiterns, hier am Beispiel des Scheiterns an Shakespeare, das fast unvermeidlich und keine Schande ist. So beginnt der Abend. Da sitzt ein Regisseur, blickt wenige Stunden vor der Premiere entsetzt auf seine Inszenierung. Das ist nun per se nichts Komisches und könnte eher mit den melancholischen Aspekten des Stücks in Verbindung gebracht werden. Jedoch, ich habe eher ein lustvolles Scheitern gesehen, lustvoll nicht für den Regisseur, aber für den Zuschauer. Da gab es viele komische Momente, die Schwermut des Scheiterns steckte zwar auch drin, aber sie überwog nicht. Einiges an Klamauk und Slapstick war hier zu sehen. Die hohe Schule ist es, Slapstick übergangslos in Ernst umschlagen zu lassen. Auch das gelang, für meine Begriffe besonders eindrucksvoll durch Artemis Chalkidou. Eben noch ist sie der Physiker, der nicht so recht ins Stück passen will, dann wird sie zu Antigone und zelebriert mit ihrem vermutlich auf griechisch gesprochenem Monolog einen der Höhepunkte des Abends. Ein weiterer war für mich eine Szene, in der noch einiges an Shakespeare-Text steckte: Manuel Harder als Regisseur probt mit Edgar Eckert (Narr), Manolo Bertling und Sarah Franke (Viola/Cesario/Olivia/Malvolio). Wer den Text nicht gut kennt, hatte jetzt vielleicht kleinere Probleme, die einzelnen Rollen zuzuordnen, aber prinzipiell konnte man es genießen, wie hier mit wenigen Sätzen Shakespeare-Text die Frage „Welche Rolle spiele ich?“ weiter untersucht wird. Die Rollen von Olivia und Viola von einer Schauspielerin spielen zu lassen, ist durchaus schlüssig, unterscheiden sich doch auch bei Shakespeare beide Personen anagrammatisch betrachtet nur durch ein „i“.

180° WENDE, ABER KEINE FREAKSHOW

Wie miss laine im Gästebuch geschrieben hat, gab es hier viel, das zum Nachdenken anregt, und ich bin mir sicher, dass ich bei wiederholtem Sehen noch viel entdecken werde. Trotzdem war mir vieles zu komisch, das Scheitern zu lustvoll. Das soll kein Vorwurf sein, denn zugleich wuchs die Hoffnung, dass es noch einen Bruch geben würde. Wer „Pension Schöller“ gesehen hat, wird verstehen, was ich meine: Vor der Pause war es ausgelassen komisch, nach der Pause gab es eine Drehung um 180°. Beides gehörte aber symbiotisch zusammen – der zweite Teil funktionierte nicht ohne den ersten. Und so hatte ich also in der Pause das Gefühl, irgend etwas wird noch passieren. Ein Blick auf die Probenfotos im Programmheft bestätigte das Gefühl. Die Szene, die ich meine, ist sicher die meistdiskutierte des Abends. Und ich gebe miss laine recht, dass es schade ist, dass der Abend in manchen Meinungsäußerungen auf diese Szene reduziert wird. Und doch gehe ich nicht mit, die Szene als „one-man-freakshow“ zu bezeichnen. Wir haben Maximilian Brauer in den letzten Jahren so oft gesehen, dass wir glauben, seine Rolle zu kennen. Und irgendwie ist da auch etwas dran. Es ist ein Verständnis der Rolle des Schauspielers, die mir beim Sehen von Castorf-Inszenierungen in den 90er Jahren bewusst geworden ist. Man sieht nicht den Hamlet auf der Bühne, sondern den Schauspieler X, der Hamlet spielt. Die Individualität durchdringt die Rolle, wie es Guillaume Paoli sinngemäß in den Losen Blätter Nr. 5 formuliert. Da werden oft Grenzen überschritten, Grenzen des Schmerzes und der Selbstpreisgabe. Und genau diese Auffassung des Schauspielerdaseins verkörpert in meinen Augen auch Maximilian Brauer. Dorthin gehen, wo es weh tut, und dann möglichst lange dort verweilen, das ist seine Art. Das ist meist in höchster Stufe zu beobachten in Premieren. Seine Auftritte in Hunger oder Kirschgarten waren in der Premiere im Vergleich zu folgenden Aufführungen unübertroffen.

MAX, GOTT, ESEL UND NATASCHA KAMPUSCH

Doch zurück zum „Nackten Wahnsinn“. Nachdem die Problematik des Rollespielens in verschiedenen Varianten untersucht wurde, kommt Sebastian Hartmann zu einer Konstellation, die mit „Was ihr wollt“ nichts, mit der Frage des Rollespielens alles zu tun hat. Plötzlich steht Maximilian Brauer als Jesus Christus auf der Bühne, Regisseur Manuel Harder wird zu Gott, Hagen Oechel zum Teufel, Manfred bleibt, was er ist – ein Esel. Ist denn dieser Jesus nicht ein Paradebeispiel für jemanden, der eine Rolle zu spielen gezwungen wird? Eine Rolle als Erlöser, die am Kreuz endet? Wie schwer es war, diese Rolle bis zur letzten Konsequenz anzunehmen, kann man schon in der Bibel lesen („Lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“). Warum also nicht einmal über die Möglichkeit nachdenken, dass Jesus diese Rolle nicht annehmen will? Er stellt sich der Zerreißprobe zwischen dem eigene Wollen (und Fürchten) und dem Willen des Vaters. Und das Wort Zerreißprobe nimmt Maximilian Brauer ganz wörtlich, indem er sich an seinem Geschlechtsteil reißt. Das mag man passend finden oder nicht, es bleibt ein starkes Bild. Doch bei der Weigerung des Sohnes, die seine Pläne durchkreuzt, wird Gott fies. Schließlich ist es noch ein weiter Weg für Gott, bis er der Angebetete einer Weltreligion sein wird und um dieses Ziel zu erreichen, ist ihm auch sein Sohn kein zu großes Opfer. Wenn dieser also nicht mitspielen will, muss Gott Überzeugungsarbeit leisten. Die Qualen, mit denen er Jesus überzeugen will, werden von Maximilian Brauer sehr eindrücklich als körperliche Qualen dargestellt. Dieser Jesus ist zu vielem bereit, hat auch keine Hemmung, tief hinabzusteigen und sich im Kot zu wälzen, nur eines will er nicht – eine fremdbestimmte Rolle spielen. „Ich will nicht dass mir jemand vorschreibt welche Rolle ich zu spielen habe!“ – Es soll keine Missachtung der anderen Beteiligten des Abends sein, aber Maximilian Brauer bringt meiner Meinung nach diese Botschaft an dieser Stelle am stärksten zum Ausdruck. Irgendwo habe ich auch gelesen, das hätte nichts mit Kunst zu tun. Dazu möchte ich aus einem Interview mit Frank Castorf zitieren (Süddeutsche Zeitung, 28.10.11): „In der Kunst geht es nicht um Überschaubarkeit, um Konsens, um nichts, was korrekt ist. Kunst und korrekt, das ist wie Feuer und Wasser.“

EIN STARKES FINALE

Brauers Auftritt ist der Beginn eines starken Finales. Der Dialog Gottes mit dem Teufel, der Auftritt von Cordelia Wege als Natascha Kampusch, Andrej Kaminsky, der den ganzen Abend über nur immer älter wurde, ohne zu spielen, und schließlich noch das Poe-Gedicht über den Sieger Wurm darbieten darf – großartig! Ja, Nina May hat recht, das ist das, was zu einem richtigen Hartmann-Abend fehlte. Nur muss angemerkt werden, dass für Frau May ein Hartmann-Abend zumindest für den gemeinen LVZ-Leser etwas ist, das man fürchten muss wie der Teufel das Weihwasser, während es Theaterfreunde gibt, für die die letzten drei Jahre der Theaterhimmel auf Erden geworden sind, eben weil Sebastian Hartmann als Regisseur und Intendant im CT Theater macht und ermöglicht, dass wir wohl in Leipzig nach 2013 so bald nicht wieder zu sehen bekommen werden. Hartmann hat das Theater nicht revolutioniert oder neu erfunden (wie es kürzlich jemand unter widerrechtlicher Benutzung meines Namens auf nachtkritik.de behauptet hat), aber er hat hier in Leipzig einen eigenen Stil kreiert, mit dem ihm noch eine große Zukunft bevorsteht. Dass diese Zukunft leider nicht in Leipzig stattfinden wird, ist nicht Hartmanns Schuld, sondern die der Leipziger.

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