Der Untergang der Titanic | Theater an der Ruhr

vor uns die sintflut – die mülheimer titanic will nicht untergehen

Im Mülheimer Theater an der Ruhr spielen die Enzensbörger fröhlich zum Untergang auf, während die Welt sich rückwärts immer weiter dreht und helle Spots die dunkelsten Ecken des Seins ausleuchten. Angerichtet hat diese düster-kluge Hans-Magnus-Enzensberger-Karussellfahrt der Leipziger Hausregisseur Philipp Preuss.

Der Untergang der Titanic © F. Götzen
Der Untergang der Titanic © F. Götzen

Also sitze ich hier und amüsiere mich mit den Untergang.

Dunkel ist es im Theatersaal, Glitzervorhänge an den Seiten und deren Lichtspiegelungen am Boden stellen eine düster-funkelnde und einem Untergang sehr angemessene Unter-Wasser-Atmosphäre her, während sich die Zuschauer auf dem Podest in der Bühnenmitte einem Platz suchen. Hinter einem der Vorhänge fabrizieren die Musiker Kornelius Heidebrecht und Henning Nierstenhöfer neben allerlei Melodien einen bizarren Untergangssound, wobei ersterer schon im Foyer mittels Salon-Pianospiel die Zuschauern augenzwinkernd-tückisch zu Passagieren machte.

Vor dem Vorhang der Dichter selbst, der in 33 Gesängen den Untergang des unsinkbaren Fortschrittstraumschiffes Titanic anno 1912 beschreibt, durchdenkt, assoziiert, untersucht, phantasiert, befragt, oszilliert, seziert. „Der Untergang der Titanic“ ist ein kluger, kunstvoller, auf Irrwege lockender und auf den Punkt treffender, übervoller, ein nachlesenswerter Theatertext und so frappierend heutig, dass er sehr zu Unrecht nur selten in den Spielplänen auftaucht.

Fahrt nimmt gleich nicht nur der Abend selbst, sondern auch das Podest auf, auf dem wir sitzen. Und entgegen dem unzerstörbaren menschlichen Fortschrittsglauben drehen wir uns sinnfälligerweise rückwärts durch Zeit und Raum. Wie 1000 Meilen unter dem Meer kommt man sich vor oder eben wie tief im Schiffsbauch, eingehüllt von einem dumpfen Dröhnen und leise-drohende Knarzen, als wäre etwas kurz vorm Bersten, dann wieder ein leichtes Klirren wie von Eiswürfeln in 1000 Whiskygläsern an einem der Schiffsbartresen.

Der Untergang der Titanic © F. Götzen
Der Untergang der Titanic © F. Götzen

Aus dem Dunkel drumherum tauchen sie kurz in helles Licht, in der tiefschwarzen See versinken sie wieder: die Enzensbergerschen Untoten, die Schiffsmenschen und Fantasiefiguren, die Zwischendeck-Boat-People und die Maschinisten, die Salondamen und die satten, fetten Zigarrenraucher, die Bildermenschen und die Menschenbilder. Dazwischen irrt ein so ruheloser wie weitblickender, antiker Dichter umher – nicht umsonst hat Enzensbergers Stück die Struktur von Dantes Göttlichen Komödie und führt Gesang um Gesang in konzentrischen Kreisen tiefer in die gesellschaftliche Hölle.

Die tägliche Scheußlichkeit stört, aber sie verwundert nicht.

Das zehnköpfige Mülheimer Titanic-Ensemble spielt wunderbar diese zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft. Chorische Passagen wechseln mit Soli, starke Einzelszenen mit rätselhaften Gemeinschaftsbildern und alles fügt sich zu einem abgründig-menschlichen, dabei alle Not li-la-locker überspielenden Daseinspanorama. Tanzen wir am Abgrund, weil wir den Absturz für einen Witz halten? Trauen wir den eigenen Augen oder dem, der seine Wahrheit am vehementesten behauptet? Wohin führt er denn, der Fort-Schritt? Wer ersäuft? Wer gewinnt? Die erste Klasse oder das Zwischendeck? Männer, Frauen, Kinder zuerst? Der Kapitän bleibt bis zum Schluss? Die Natur oder der Mensch?

Jetzt hören wir doch endlich auf, mit dem Ende zu rechnen!

Der Untergang der Titanic © F. Götzen
Der Untergang der Titanic © F. Götzen

Eine große Parabel des fortwährenden Weltuntergangs bei unbeirrbarer Fortschrittshörigkeit haben Philipp Preuss und Team hier mit scheinbar leichter Hand und dabei schön hintersinnig angerichtet. Einen finsteren Spuk an Bord mit viel zu wenig Rettungsbooten, mal überdeutlich, mal schwer zu lesen, mit verwobenen Bildern und durchdachter Choreographie, aber immer mit dem nötigen Raum für diesen hintergründigen und scharfzüngigen Text.

Das letzte Dinner … oder ist es das Abendmahl? … geht hier ewig weiter, während die da unten genauso ewig ersaufen, während der Dichter wahlweise (Meer)Wasser spuckt oder sich am selbstentzündeten Feuer versengt, während der Untergang also einmal mehr aufgeschoben scheint und der klug erzwungene Blick zurück uns in Augenschein nehmen lässt, was mensch schon so alles angerichtet hat und was sich bei volle Fahrt voraus meist so schön ausblenden lässt.


» Der Untergang der Titanic
Von Hans Magnus Enzensberger. Regie Philipp Preuss. Bühne Ramallah Aubrecht. Dramaturgie Sven Schlötcke. Kostüm Eva Karobath. Video Konny Keller. Licht Jochen Jancke. Musik Kornelius Heidebrecht und Henning Nierstenhöfer. Regieassistenz Tobias Stöttner. Mit Petra von der Beek, Simone Thoma, Dagmar Geppert, Gabriela Weber, Albert Bork, Günther Harder, Klaus Herzog, Fabio Menéndez, Steffen Reuber und Rupert J. Seidl.

Wieder am 29. Dezember 2019

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