die euro-scene 2013 – ein rückblick

Bereits zum 23. Mal fand in der vergangenen Woche die Leipziger euro-scene statt, das Festival zeitgenössischen Theaters. Aus zwölf Gastspielabenden aus elf Ländern in acht Spielstätten ließ sich ein volles Programm zusammenstellen. Unser Autor Thomas Pannicke hat in der knappen Woche acht Inszenierungen gesehen. Über zwei davon soll hier berichtet werden.

The Blue Boy // Compagnie Brokentalkers // Dublin

Mein eindeutiger Favorit war das Gastspiel der Compagnie Brokentalkers aus Dublin mit dem Stück The Blue Boy. Hintergrund der Inszenierung ist der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. Die spielt im öffentlichen Leben Irlands eine größere Rolle als bei uns und hat entsprechend viel Aufregung verursacht. Konkret greifen die Regisseure Gary Keegan (der auch selbst auf der Bühne steht) und Feidlim Cannon auf den Ryan-Report zurück. Dieser Bericht war das Ergebnis der öffentlichen Untersuchung der Vorkommnisse durch eine Kommission unter dem Vorsitz des Richters Sean Ryan und befasst sich mit Geschehnissen seit 1936.

The Blue Boy. Foto: Daniel Keane © euro-scene Leipzig 2013
The Blue Boy. Foto: Daniel Keane © euro-scene Leipzig 2013

Während sich deutsche Medien vor allem mit dem Aspekt des sexuellen Mißbrauchs beschäftigten, stellt der Ryan-Report klar, dass unter dem Begriff Missbrauch viel mehr zu verstehen ist: körperliche Misshandlung, Hunger, Ausbeutung der Arbeitskraft. Der namensgebende „blaue Junge“ ist eines der Kinder, die in einer katholischen Erziehungsanstalt ihr Leben verloren. Im Stück werden beispielhaft die Zustände in der Industrial School of Artane geschildert. Den Brokentalkers gelingt es dabei, keinen rein dokumentarischen Bericht zu liefern, sondern die schlimmen Ereignisse künstlerisch zu verarbeiten. Während der Regisseur Gary Keegan über exemplarische Geschehnisse berichtet, arbeiten die Schauspieler auf der durch eine Gazewand von Publikum getrennten Bühne vorrangig mit Bewegung und Tanz.

Besonders beeindruckend sind ihre Masken, die alle nach dem Bild eines der Missbrauchsopfer gestaltet sind. So entsteht der Eindruck der Uniformität, die in diesen Anstalten herrschte. Die Kinder dort wurden nicht mit ihren Namen, sondern mit Nummern gerufen – die Schauspieler haben Schilder mit Zahlen umgehängt. Grausamkeit und Gewalt werden kaum wirklich dargestellt, sondern nur im Text genannt. Durch das Zusammenwirken von zum großen Teil dokumentarischem Textmaterial, von Filmsequenzen und durch die Präsenz der namenlosen, stummen, in einheitlich graue Arbeitsanzüge gekeideten und mit einheitlichen Gesichtern versehenen Schauspieler auf der Bühne entsteht ein Gesamtbild, das dem Zuschauer Dinge nahe bringt, ohne sie wirklich auszusprechen zu müssen.

So wird z.B. an einer Stelle eine lange Liste von Gegenständen genannt – ohne dass es gesagt wird, ist klar, dass diese zur Misshandlung der Kinder verwendet wurden. Sehr eindrücklich auch die Schilderung einer konkreten Arbeitsaufgabe: Die Herstellung von Rosenkränzen, die dann z.B. in Lourdes verkauft wurden. Es wird beschrieben, wie die Kinder von früh bis spät kleine Perlen auf Drähte fädelten und dann heißt es, daß einige Perlen auch verschluckt wurden, um das schmerzende Hungergefühl zu betäuben. Eine weitere Aufzählung nennt Dinge, die ebenfalls gegessen wurden, vieles davon nicht sehr appetitlich. Im anschließenden Publikumsgespräch erfährt man noch interessante Details. So wurden für die Choreographie der Schauspieler Gesten verwendet, die die Regisseure auf einer DVD des Ryan-Reports für Taubstumme entdeckt haben. Insgesamt ein Abend, der unter die Haut geht.

Ars Vivendi // CapriConnection & Schola Cantorum Basiliensis

Die Truppe CapriConnection aus Basel gastierte mit Ars vivendi, einer Gemeinschaftsproduktion mit der Schola Cantorum Basiliensis. Regie führte Anna-Sophie Mahler, die Musiktheaterregisseurin ist und auch mit Christoph Marthaler und Christoph Schlingensief zusammengearbeitet hat. Und der Abend erinnert mich auch an eine Marthaler-Inszenierung, vor allem wegen der Musik. Die Schola Cantorum Basiliensis ist eine Hochschule für Alte Musik und das Ensemble singt Musik aus dem italienischen Frühbarock, begleitet von Orgel, Laute und Cembalo. Diese Musik ist es auch, die mich an diesem Abend am meisten beeindruckt hat. Das Musikensemble bewegt sich meist im Hintergrund der Bühne, nimmt aber teilweise auch direkt am Spiel teil.

ARS VIVENDI von CapriConnection & Schola Cantorum Basiliensis © Susanna Drescher 2013
ARS VIVENDI von CapriConnection & Schola Cantorum Basiliensis © Susanna Drescher 2013

Denn eine Spielhandlung gibt es auch – drei sogeannte „Stadtmenschen“ wollen für kurze Zeit dem hektischen Alltag entfliehen und besuchen einen von einem Aussteiger geführten Bauernhof. Ihre Gespräche sind aber sehr banal. Der Text der Spielhandlung beruht zum einen auf Interviews mit Zeitgenossen, ist aber angereichert mit diversen Zitaten aus den Bereichen Kunst, Philosophie und Geisteswissenschaft. Im Publikumsgespräch wird zwar betont, dass der Gegensatz zwischen der kunstvollen Musik und der Darstellung der Banalität des Lebens gewollt war, restlos überzeugt hat mich diese Kombination nicht.

Wie in jedem Jahr zog die euro-scene viele Besucher an (die Auslastung lag bei über 94%), die Publikumsgespräche waren auch zu später Stunde stets gut besucht und es wurde eifrig diskutiert. Leider dominierte aber in der Berichterstattung über Kultur ein anderes Thema – die Vorwürfe von Schauspielintendant Enrico Lübbe an seinen Vorgänger Sebastian Hartmann wegen angeblicher finanzieller Unregelmäßigkeiten. Sebastian Hartmnann hat sich in einer Pressemitteilung  dagegen verwahrt – auf MDR Figaro war von haltlosen Vorwürfen die Rede. Wie auch immer, das Beispiel zeigt leider, dass die Kultur in den Hintergund gedrängt wird, wenn es um Finanzen geht.

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