Die unerträgliche Leichtigkeit der Distanz | Theaterakademie Sachsen / BAFF Theater Delitzsch e.V.

‚du bist heute so weit entfernt von meiner gier‘ – stefan kaminsky & ensemble zeigen in delitzsch einen abgründig-komischen reigen

Eine Drehtür aus Plexiglas auf leerer Bühne, die Frauen und Männer mit und ohne Masken in immer neuen, willkürlichen Paarungen ausspuckt, die großen Fragen der zwischenmenschlichen Begegnungen bzw. der Unmöglichkeit derselben: In Delitzsch haben sich die Studenten – und ein Absolvent – der Theaterakademie Sachsen an die gewissermaßen doppelte Überschreibung von Schnitzlers Reigen der Geschlechter gewagt – mit Anleihen aus der Erstüberschreibung Werner Schwabs und der Corona-Wirklichkeit des Jahres 2020 als Blaupause – und landen damit eine Reihe so komischer wie treffender AHA-Effekte.

Die unerträgliche Leichtigkeit der Distanz © Sabine Eichberg
Gefangen in der Drehtür des Beziehungskarussells: Die unerträgliche Leichtigkeit der Distanz © Sabine Eichberg

Vier Damen und drei Herren sind unter Leitung von Stefan Kaminsky angetreten, um überaus lustvoll zwischenmenschliche Abgründe auszuleuchten und auf ihren Gehalt in Zeiten von Corona abzuklopfen. Und diese Abgründe aus Machtgefällen, gegenseitigen Abhängigkeiten, Win-Win- aber noch mehr Win-Loose-Situationen scheinen tatsächlich mittels klug gesetzten Distanz noch abgründiger zu sein als sonst.

Nach jedem Drehtürschwung landet eine neue Zweierpaarung in der Szene: Die Hure – hier Justin John als beeindruckend lakonischer, schwarzer Engel- und ihr zahlungsunwilliger Kunde: der gutgestellte Angestellte (Sebastian Geiger zwischen jungenhaftem Charme und chauvinistischer Was-kostet-die-Welt-Anmaßung). Derselbe, nun Abgestellte, bei einer komisch-erotischen Distanz-Kopfmassage im Frisiersalon. Nächster Dreh: Seine aufs Ehe?-Gehe …-Wehe!-Versprechen hereingefallene Friseurin mit ihrem neuen Hausherrn, der die Nebenkosten offenbar viel körperlicher berechnet als der alte.

Manchmal fühle ich mich wie ein heruntergefallenes Aerosol

Und weiter dreht sich das Geschlechterkarussell: zum Ehepaar, bei dem sich seine Lust nur noch in mal mehr, mal minder subtiler Gewalt entlädt (wiederum John, der einem bei aller Komik ein Frösteln über den Rücken schickt); ins Büro des Firmenchefs, der der Provinzsekretärin-Anwärterin Nachhilfe in Sachen Zungenfertigkeit erteilt. Über den erfolglosen Herbstgedichtedichter und dem 12-Uhr-Mittags-Klopapier-Duell zweier Prepper-Rapper-Visionäre, durch in die Garderobe einer umworbenen und berechnenden Schauspielerin (selbstironisch-energiegeladen und stimmgewaltig Annabel Bayer) und hinein in die Schlussszene, in der sich der Kreis schließt. Denn hier treffen wir die Hure vom Anfang wieder, jetzt in Paarung mit einer von und zu EU-Kommissionspräsidentin (haarspraygefestigt und doch in verlorenster Plenarstellung: Sophie Hess).

Der Schnaps macht schon die Goldrichtigkeit
mit dir für mich.

Die derbe, sehr künstlerische Sprache Schwabs mit ihren ungewohnten, bedeutungsschwangeren Widerhaken ist hier zugleich eine Lust und eine Mühe – nicht immer gehen die wortspielerischen Satz(unter)bauten auf im Spiel. Aber wenn, dann schafft das herrlich-unzüchtige Hirn- und Zungenverknotungen, dort, wo reale Küsse den geltenden Abstandsregeln zum Opfer fallen.

Die unerträgliche Leichtigkeit der Distanz © Sabine Eichberg
Sophie Hess und Annabel Bayer in „Die unerträgliche Leichtigkeit der Distanz“ © Sabine Eichberg

Die Überschreibungen mit unserem Heute sind meist erschreckend schlüssig und nur manchmal kommen die Wirklichkeitsanleihen – die Aktentasche von Wirecard, der Verweis auf Oberprepper Xavier – naja, ein wenig überambitioniert daher. Das hat die Inszenierung einerseits gar nicht nötig, es stört andererseits aber auch nicht wirklich, denn bei aller Komik schwingt hier doch immer ein sehr universelle Kern mit: nämlich eben jene titelgebende unerträgliche Leichtigkeit – des erbittert tobenden Machtkampfs der Geschlechter und die der süßen Schwere des Nicht-Zueinanderfindens.

Ein Abend voller toller Energie und Spielfreude, mit Witz und Esprit, reich an charmanten Einfällen und mit dem ein oder anderem Lachen, das einem sprichwörtlich im Halse stecken bleiben möchte. „Vielleicht gehe ich ja heute Abend wieder ins Theater.“ spricht die Abgeordnete kurz vor Ende zum so angehimmelten wie benutzten Schauspielstar. Und wo hier eine Drohung mitschwingt, kann das in Delitzsch als Versprechen gelten.


» Die unerträgliche Leichtigkeit der Distanz
Nach Arthur Schnitzler und Werner Schwab. Regie: Stefan Kaminsky. Bühne: Marcel Vatterodt. Kostüme: Jana Bauke und Team. Musik: Michael Plewinski. Licht: Jens Börke. Ton: Anna Giger. Mit Justin John, Sebastian Geiger, Anahita Müller, Max Henel, Sophie Hess, Patricia Felsch und Annabel Bayer.

Eine Koproduktion der Theaterakademie Sachsen und des BAFF Theater Delitzsch im Theatersaal im Oberen Bahnhof Delitzsch. Kartenreservierungen unter info@baff-theater.de oder telelfonisch unter 034202/36070.

Weitere Vorstellungen: 26.09.2020; 02.10. 2020; 03.10.2020; 09.10.2020 und 10.10.2020 jeweils 20 Uhr.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert