freunde, nur mut! in hamburg wurde progressiv ge-dacht

Am Hamburger Schauspielhaus konnte man am letzten Wochenende der Gründungsgala der Gesellschaft für Progressives Gedenken beiwohnen. Der was? Progressiv denken ok, aber ge-? Zugegeben, in die Idee von Regisseurin Elise Schobeß, Sebastian R. Richter, Franziska Jakobi und ihren Mitstreitern muss man sich erstmal progressiv hineindenken ...

Die Prophezeiung des Ereignisses führt zum Ereignis der Prophezeiung Paul Watzlawick

1000 Jahre Leipzig, 25 Jahre deutsche Einheit, 500 Jahre Reformation – Vergangenem in immer größeren Events zu gedenken, ist geradezu Volkssport geworden. Diese Gesellschaft aber verlegt das Ge-denkwürdige kurzerhand in die Zukunft. Einem wünschenswertes Ereignis, terminiert auf Tag X, wird im Heute gedacht. Wunsch wird Ziel, Traum Realität und die Zukunft so – entgegen dem: man kann doch eh nix ändern – wieder gestaltbar.

Eine self-fulfilling prophecy im besten Sinne also hat man sich auf die Fahnen geschrieben und deutet dafür amüsant und hintersinnig zunächst die Vergangenheit progressiv um: die frühzeitliche Skulptur wird zum progressiven Gedenkfest für eine Menschenkette gegen Nazis 2015, da Vincis Studienblatt mit Katzen und Drachen zum Vorläufer der unvermeidlichen Katzenvideos.

 

Wir halten jetzt die Welt mal an, sagen wir bis Mitte Dezember, und dann … dann sehen wir weiter Thomas Ebermann

Im weiteren Gala-Verlauf folgen ein Streitgespräch mit dem letzten Querulanten Thomas Ebermann (Grünen-Mitbegründer und für sich allein schon ein Erlebnis), der sich gegen den Expertenstatus verwahrt und der Utopie einiges abgewinnen kann, allein den Weg dahin nicht auszumachen vermag; ein Wissenschaftsexperiment mit dem allzu leicht manipulierbaren homo oeconomicus und ein pessimistischer Indianer (Mirko Thiele), der das Ende der Menschheit prophezeit.

Treffen sich zwei Planeten, sagt der eine: Mir geht’s nicht so gut, ich habe Mensch … sagt der zweite: mach dir keen Kopp, das geht von alleine wieder weg …

Vor dem Feuerwerk und der feierlichen (Neu)gründung der Gesellschaft gibt es charmant fingierte Live-Schalten zu parallelen Gründungsveranstaltungen in aller Welt. In Leipzig sind Tilo Krügel und Wenzel Banneyer vom Schauspiel very professional in Action und beim Dresdner Beitrag stockt kurz der Atem, wenn man realisiert, dass die Menschenmenge im Hintergrund durchaus Pegida sein könnte.

Und da wären wir auch gleich beim Pferdefuß der schönen Idee, denn: wer sagt uns denn, dass der Mensch gut ist, wenn er nur gelassen wird? Was, wenn viele Menschen gar nicht dem gedenken, bzw. das anstreben, was wir hier gerade als gemeinhin gut und erstrebenswert ansehen? Was, wenn sich etwa zu viele finden, die gern dem abgeschotteten Europa ohne Fremde und mit streng bewachten Grenzen allerspätestens im Jahr 2025 gedenken würden?

Freunde, nur Mut! Lächelt und sprecht: „Die Menschen sind gut, bloß die Leute sind schlecht. Erich Kästner

Genau darum drehen sich dann die Gepräche auf der Premierenfeier und die sind lang und angeregt und kontrovers. Und dazu kann man diesen kurzweiligen, nachdenklichen, wenn auch nicht immer stringenten, vielleicht auch zu wenig radikalen Abend nur von Herzen beglückwünschen.

Nehmen wir also unser aller die Zukunft in die Hand und sehen uns vielleicht auf einer der kommenden progressiven Gedenkveranstaltungen:

in 10 Jahren: Es eröffnet eine Vielzahl neuer Theater, Galerien und Konzerthallen, um den steigenden Besucherzahlen gerecht zu werden
in 25 Jahren: Die erste Autobahn wird aufgrund mangelnder Nutzung rückgebaut
in 40 Jahren: Der letzte hungerleidende Mensch verzehrt unter Applaus eine Bohnensuppe aus eigener Ernte
in 70 Jahren: Es gibt wieder Riesenkraken
in 90 Jahren:


» Gesellschaft für progressives Gedenken
Inszenierung: Elise Schobeß. Film/Assistenz: Franziska Jakobi. Dramaturgie: Sebastian R. Richter. Musik: Sonja Engelhardt, Philipp Püschel. Mit: Berit Juppenlatz, Thomas Ebermann, Felix Kersting, Vivian Schotte, Nikita Sorgatz und Mirko Thiele.

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