Oha, was Sascha Hawemann und Ensemble hier auf die Bühne der Schweriner M*Halle bringen, ist nichts für zarte Gemüter. Dabei aber wie immer voller Seele, Herz und Poesie, das pralle Leben auch beim Sterben und schon gar nicht ohne Humor. „Guten Morgen, du Schöner/Sisters“ verschränkt vier Protokolle aus Maxie Wanders gleichnamigen, längst zum Kult gewordenem Frauen-Interviewband mit der Krankengeschichte der – oder einer? – Schriftstellerin selbst, die 1977, nur kurz nach dem Erscheinen ihres einzigen Buches und gerade mal 44jährig, an Brustkrebs starb.
Von der Odyssee durch die diversen Kliniken, von der Aussichtslosigkeit des Kampfes, von der menschlichen Kälte des (Medizin)Systems, von tausend Nöten handelt dieser Abend. Aber auch und vor allem ist er eine Feier des Lebens, des Trotz-alledems und des Sich-nicht-unterkriegen-lassens. Und so beginnt er auch: Die Schriftstellerin – hier heißt sie Birgit – wird von ihrem Mann – hier heißt er Thomas – so schwungvoll im Krankenbett auf die Bühne gekarrt, dass man sich eher auf einer wilden Karussellfahrt wähnt als kurz vor der OP. Zu der dann, natürlich, das Schreibzeug mit muss.
Ich brauche eine Schreibunterlage!
Wie soll man denn so arbeiten?
Birgit-Maxie zwischen Operation, Chemo und Hoffnung, zwischen Kobaltkanone und Rückschlägen, mit dem unbedingten Schaffensdrang der leidenschaftlichen Autorin und dem Lebenshunger der leidenschaftlichen Frau, die sich weder in ein bürgerlich-konventionelles noch in ein realsozialistisches Rollenbild einfügen mag: Julia Keiling spielt das mit großer Klarheit und Wucht und zugleich sehr zart mit kleinen Gesten, einem Blick, einer Körperhaltung. Um im allernächsten Moment den Schmerz mit einem Schulterzucken abzutun und überzusprudeln vor verzweifelter Energie. So ringt sie der zu schnell ablaufenden Zeit Seite um Seite ab, kämpft um die Worte und wenn die fehlen, setzt sie sich ans Schlagzeug und trommelt einen wilden, lauten Schmerzens-Groove. Ein Ereignis.
Ronny küsst ziemlich schlecht.
Als Leidensgenossinnen sind mit Schwung und Charme die vier Schauspielstudentinnen Rhiona Glienke, Lilli Reents, Charlotte Well und Sophia Rudi im Einsatz und formen spielfreudigst und mit toller Präsenz immer wieder aufs Neue eine mutige Solidargemeinschaft gegen das mitleidlose Schicksal. Eine jede tritt zudem einmal aus der Gruppe heraus, um als Margot, Ruth, Gudrun oder Rosi aus Wanders Interviewband von ihrem Leben in einem Land namens DDR zu erzählen. Lebensprall, facettenreich und mit mal feinem, mal derbem Witz lassen die vier jede der Frauen zur Autorin ihrer eigenen Geschichte werden. „Ich halte jedes Leben für hinreichend interessant, um anderen mitgeteilt zu werden“ sagt Maxie Wander im Vorwort zu „Guten Morgen, du Schöne“ und tritt den Beweis gleich selbst an: Absolut bemerkenswert ist die Offenheit der zu Protokoll gegebenen Geschichten, An- und Einsichten, unerwartet so manche Parallele zwischen den ganz unterschiedlichen Frauen und Mädchen und deutlich fühlbar die Stimmung, die Verfassung der Menschen an diesem Punkt der DDR-Geschichte.
Scheiße, jetzt hab ich Grenzhundscheiße am Schuh!
Wie die Frauen vom Krebs, scheint auch das Land selbst zerfressen: von Politbürokratie und Ignoranz, von Stagnation und Kontrollwahn. Die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft droht zu scheitern – unter anderem so banal wie bitter an der Untauglichkeit des Menschen, an seiner Satt- und Selbstzufriedenheit, am Mangel an echter Gemeinschaft. Die daraus resultierende Einsamkeit findet sich in vielen der nicht nur in diesem Punkt so überraschend aktuellen Protokolle und ist auf der Bühne am deutlichsten spürbar in der Figur der Kati, der Tochter, die Hawemann als Gegenpol zu den um sich selbst kreisenden Schriftsteller-Elternpaar setzt. Laura Fouquet spielt diese Kati als wütendes, gegen Familie und Staat rebellierendes und dabei herzzerreißend unbeholfenes Punk-Girl, das am vehementesten von allen Freiheit einfordert und noch im Verhör zum Takt der Stasi-Schläge einen brutalen Rap hinlegt. Dieser Auf-die-Fresse-Monolog jedoch steht doch als ziemlich sperriger Monolith in dieser Inszenierung, in der es sonst um Einiges subtiler, dabei aber nicht minder hart zugeht.
Wolf Gutjahr hat für diesen Frauen-Reigen einen offenen, mit wenigen Requisiten bestückten Spielraum geschaffen. Vorn ist der begrenzt von einem Flussbett aus hunderten losen Manuskriptseiten, an der Seite steht ein Piano, hinten thront das erwähnte Schlagzeug vor einem weißen Vorhang, der von den Spielerinnen wieder und wieder be- und überschrieben wird. Im Raum verteilt hängen Glühbirnen und Mikrofone von der Decke: Gerade so hoch, dass die Spielerinnen sich strecken müssen, um sich Gehör zu verschaffen. Lustvolles Empowerment, das nicht ohne Anstrengung zu haben ist. Später schwingen all diese Lichter im Bühnendunkel, hin und her zwischen Verzweiflung und Hoffnung und Hoffnung und Verzweiflung: ein Tanz irrlichternder Seelen.
Und es ist eindeutig ein Frauenabend. Der Mann (Rudi Klein – höchstbeweglich, sinnen- und sangesfreudig in allen Rollen) bleibt schlussendlich Stichwortgeber, Begleitmusiker, mal Stütze, mal ein schwaches, oft ein wenig seltsames, bisweilen sogar Ekel auslösendes Wesen. Selbst der Arzt, umgarnt, bekniet als letztmögliche Rettungsinstanz, der am Klavier die Medikation intoniert, den Patientinnenchor dirigiert oder mit selbigem und Plastiktanne ein so herzenswarmes wie skurriles Stationsweihnachtsfest feiert, selbst dieser Halbgott-in-Weiss hat am Ende dem Exodus in Zimmer 16 nichts entgegenzusetzen.
… und dann ist der Krebs da, wo er hin gehört, im Meer. Nicht in einer Frau, Tochter, Mutter, Schwester.
Poetisch leicht schwebend und zugleich absolut geerdet sind diese eindreiviertel Stunden. Helles Leuchten über dunklen Untiefen, komisch und tragisch, laut und leise. Scheiße und Glitzer sozusagen – ein Stück unserer Geschichte, ein Kratzen an der Gegenwart mit einer Menge Stoff zum Nach-Denken und mehr noch zum Nach-Fühlen. „… kein Pathos, keine Spur von Sentimentalität, und alles ist so schön und bitter und alltäglich wie das Leben.“ notiert Brigitte Reimann im März 1963 über eine Geschichte Georgi Wladimows in ihr Tagebuch. Und genau das gilt auch für diesen überaus sehenswerten Theaterabend.
» Guten Morgen, Du Schöne/Sisters
Porträts von Maxie Wander Ein Theaterabend von Sascha Hawemann & Ensemble. Regie Sascha Hawemann. Bühne Wolf Gutjahr. Kostüme Hildegard Altmeyer. Dramaturgie Philip Klose. Es spielen: Laura Fouquet, Julia Keiling, Rudi Klein, Rhiona Glienke, Lilli Reents, Charlotte Well und Sophia Rudi. Premiere am 23. Februar 2024, Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin, M*Halle
Nächste Vorstellungen: 15. und 17. März / 1. April / 17. Mai (zum letzten Mal in dieser Spielzeit)