Schuld und Sühne | Staatsschauspiel Dresden

hartmanns schuld und sühne – eine beeindruckende grenzüberschreitung

Auch unser Autor Thomas Pannicke war bei der Hartmann-Premiere in Dresden und hat einen Abend gesehen, der "die Grenzen des herkömmlichen Theaters überschreitet". Hier seine Sicht auf Schuld und Sühne":

Schuld und Sühne, Dresden © Sebastian Hoppe
Schuld und Sühne, Dresden © Sebastian Hoppe

Am Leipziger Schauspiel ist man stolz auf  diverse Festivaleinladungen. Zumindest kann man diesen Eindruck bekommen, wenn man sich die Fassade des Hauses ansieht. Schaut man in die Spielpläne, ist davon nicht so viel zu sehen, doch das ist eine andere Geschichte. Immerhin, Leipzig war wieder beim Theatertreffen in Berlin dabei, wenn auch nur als eine von mehr als zehn koproduzierenden Institutionen von She She Pops „Oratorium“. Noch ein wenig erfolgreicher ist jedoch die andere sächsische Theatermetropole: Das Staatsschauspiel Dresden wurde in diesem Jahr mit zwei Produktionen nach Berlin eingeladen. Da ist zum einen die Dresdener Variante von Ulrich Rasches monumentalem Maschinentheater („Das große Heft“). Rasche ist in den letzten Jahren zum Stammgast in Berlin geworden und hat bei der Jury wohl derzeit den Status, den vor ein paar Jahren Herbert Fritsch hatte. Zum anderen wurden Sebastian Hartmanns „Erniedrigte und Beleidigte“ eingeladen, reihesiebenmitte hatte im April 2018 über die Premiere berichtet.

Keine drei Wochen nach dem Gastspiel in Berlin gab es nun in Dresden die nächste Premiere von Sebastian Hartmann: „Schuld und Sühne“ nach Dostojewski. Auf dem Weg zur Vorstellung sehe ich, nur ein paar Schritte vom Theater entfernt, noch ein Wahlplakat der AfD: „Keinen Cent für politisch motivierte Kunst!“ Da stellt sich ein ungutes Gefühl ein. Wie mögen die Theaterbesucher der letzten Zeit bei ihrer Wahlentscheidung auf diesen Slogan reagiert haben?

Im Theater angekommen, kauft man sich das Programmheft und sieht, dass es keine Rollenzuteilung geben wird. Es ist fast das gleiche Schauspielerensemble wie im letzten Jahr, Linda Pöppel als Gast vom Deutschen Theater und Philipp Lux sind neu dabei. Die fehlenden Rollen sind ein erster Hinweis darauf, dass die Besucher, die an diesem Abend eine Bühnenfassung des Kriminalromans um den Doppelmörder Rodion Raskolnikow erwarten, wahrscheinlich etwas enttäuscht sein werden. Hartmann will den Roman nicht nacherzählen, sondern hat ihn auf eine Botschaft, auf eine Essenz hin untersucht, aus der er einen Theaterabend formen kann. Einen ähnlich freien Umgang mit einem Stoff haben wir von ihm schon gesehen, man denke an „Mein Faust“ in Leipzig oder „In Stanniolpapier“ in Berlin. Bei „Schuld und Sühne“ hat den Regisseur die Grundidee Raskolnikows, der die Menschen in gewöhnliche und außergewöhnliche einteilen will, gereizt. Einem außergewöhnlichen Menschen oder dem Übermenschen, wie Nietzsche ihn später nennt, ist alles erlaubt, denn seine Verbrechen, die er an einzelnen verübt, werden dem Wohle der Menschheit dienen. Raskolnikows Gedanken, die diese Idee zum Ausdruck bringen, gehören zu jenen wenigen Texten, die ich an diesem Abend eindeutig aus Dostojewskis Roman wiedererkenne. Ansonsten ist hier etwas entstanden, das die Grenzen des herkömmlichen Theaters überschreitet: eine Mischung aus Performance, bildender Kunst, Videoinstallation und Musik.

Es beginnt auf leerer, spärlich erleuchteter Bühne: Eine schwarz verschleierte Gestalt (Linda Pöppel) betritt die Bühne, beginnt zu sprechen. Es sind Worte, Satzfetzen, untermalt von einer Musik, die den Zuschauer bzw. –hörer in den nächsten anderthalb Stunden im Griff haben wird. Die Zeit wird mittels Digitalanzeige gemessen, zugleich läuft eine weitere Zahlenanzeige, die bei 0 beginnt und bei 2019 endet: 2019 Jahre, die etliche Male an diesem Abend angezeigt werden. Jede Jahreszahl zwar klar erkennbar, aber doch schnell dahinschwindend. Viele Jahre, mit denen man nicht viel verbindet, dann aber mit steigenden Zahlen doch immer mehr Jahre, mit denen man historische Ereignisse assoziiert. Dazu beginnen nun als weitere Dimension Videos zu laufen, Filmaufnahmen der Menschheitsgeschichte aus den letzten 80 Jahren. Viele bekannte Bilder, viele grausame Bilder: 2. Weltkrieg, die Schrecken der faschistischen  Vernichtungslager, die Totenschädel, die unter Pol Pot in Kampuchea angehäuft wurden, die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam, Kampfhandlungen an vielen anderen Orten … Und da sind sie: die außergewöhnlichen Menschen oder die, die sich dafür gehalten haben: Hitler, Stalin, mehrere US-Präsidenten, Ceaucescu, Che Guevara und seine Mörder … An einer Stelle, als gerade Hitler im Bild ist, schaue ich auf die mitlaufende Jahreszahl. Sie zeigt gerade 1940 an. Sicher nur ein Zufall, aber ein passender.

Die Schauspieler haben es schwer, gegen diese Bilder anzuspielen. Doch sie erhalten Unterstützung durch die Kulisse: eine mehrere Meter hohe, bühnenraumfüllende Kirche erscheint, dient als Projektionsfläche und wird schließlich von den Schauspielern geöffnet. Sie ist innen ausgemalt von Tilo Baumgärtel, der nun schon mehrfach mit Sebastian Hartmann zusammengearbeitet hat. Die Kirche enthält ein Stahlrohrgerüst, sozusagen als Skelett. In diesem sehen wir ein schlichtes Kruzifix aus Neonröhren. Unwillkürlich fällt einem das Plakat ein, mit dem diese Inszenierung angekündigt wurde: Ein gekreuzigter Jesus mit einem Beil auf der Brust. Das Beil ist die Mordwaffe Raskolnikows, Jesus soll vielleicht auf die religiöse Grundierung von Dostojewskis Romanen verweisen, hat aber als Person keinen Platz in der Inszenierung gefunden. Als Idee hingegen schon. An einer Stelle beginnt Torsten Ranft die Weihnachtsgeschichte zu erzählen.


Ist das noch Theater? Fragt sich in einer weiteren Besprechung reihesiebenmitte-Autorin miss laine
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Die Schauspieler sind nun viel damit beschäftigt, das Kirchenskelett in Bewegung zu halten, dazu sprechen sie Texte, die wohl auch aus dem Roman (verwendet wurde Swetlana Geiers Übersetzung „Verbrechen und Strafe“) stammen. Es gibt keine Dialoge, wechselnd werden Textfragmente vorgetragen, einzelne Schauspieler werden durch Videokamera und Tonangel hervorgehoben, trotzdem ist vieles akustisch nur schwer zu verstehen. Die Live-Videos vermischen sich mit den gezeigten Filmausschnitten. Zusammen mit den bewegten Kirchenteilen und den Schauspielern, die in wechselnden Kostümen und auch mal ohne Kostüm auftreten, entstehen immer wieder großartige Bilder. Dann plötzlich versiegt der Bilderstrom. Fanny Staffa tritt an die Rampe. Ein Lautsprecher wird in die Mitte der Bühne getragen. Aus ihm tönt weiter der Schrecken – der Lärm von Kriegsschlachten. Die Schauspielerin beginnt zu weinen, ein ihr angebotenes Mikrofon lehnt sie ab. Sie hat keine Worte mehr, will sich nur noch ihren Tränen und ihrer Trauer hingeben. Noch eben hat uns die Kamera die Schauspielerin gezeigt, nun wendet sich die Linse ins Publikum, wir sehen uns selbst auf der Bühne, auf der zuvor die Bilder des Schreckens und der Schuld flimmerten.

Das hätte in Endpunkt sein können, so war es wohl auch geplant. Ins Programmheft eingelegt ist ein Zettel, auf dem ergänzt wird, dass der Abend auch die „Rede zum unmöglichen Theater“ von Wolfram Lotz verwendet. Diese Rede kommt als Epilog. Wie schon in den „Erniedrigten und Beleidigten“ übernimmt Yassin Trabelsi den Lotz-Text, die anderen Schauspieler hören nur zu. Ist das nun als eine Art Satyr-Spiel gedacht? Oder soll es den Zuschauern eine Anleitung zum Verständnis des Gesehenen geben? Wenige Zuschauer haben die Vorstellung verlassen, von den anderen kommt viel Beifall für einen ungewöhnlichen und beeindruckenden Abend.


» Schuld und Sühne
nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewski. Regie und Bühne Sebastian Hartmann. Kostüme Adriana Braga Peretzki. Musik Samuel Wiese. Licht Lothar Baumgarte. Video Christian Rabending. Live-Schnitt Thomas Schenkel, Diana Stelzer. Wandzeichnung:  Tilo Baumgärtel. Dramaturgie Jörg Bochow. Mit Luise Aschenbrenner, Moritz Kienemann, Philipp Lux, Linda Pöppel, Torsten Ranft, Lukas Rüppel, Fanny Staffa, Nadja Stübiger und Yassin Trabelsi.

Next shows: 4. und 10. Juni 2019
 

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