Nach einem halben Jahr Zwangspause startet nun auch die Oper Halle und zwar in die fünfte und damit letzte Spielzeit unter der Intendanz von Florian Lutz. Obwohl das nicht mehr stimmt, denn Florian Lutz hat seinen Vertrag im Sommer aufgelöst.

Wie auch immer, was vor vier Jahren mit einem furiosen „Fliegenden Holländer“ in der Raumbühne Heterotopia begann, findet nun in knapp einem Jahr ein viel zu schnelles Ende. Bis dahin werden aber Chefdramaturg Michael v. zur Mühlen und der neue stellvertretende Intendant Maximilian Grafe sicher noch einige interessante Produktionen präsentieren. Und wenn alles nach Plan läuft, gibt es zum Spielzeitende auch noch einmal die Raumbühne und den „Holländer“.
Zum Spielzeitauftakt stand Verdis „La Traviata“ auf dem Spielplan. Ich hatte eine Karte für die zweite Vorstellung gekauft, die am vergangenen Sonntagnachmittag stattfand. Ein sonniger Spätsommertag, mein Weg in die Oper führte mich am Stadtgottesacker vorbei, und ich hatte noch die Zeit für einen Spaziergang über diesen sehenswerten Friedhof mit vielen mehr als 100 Jahre alten Grabsteinen – und das am Tag des Friedhofs!
Doch zurück zur Oper. Mit dieser Inszenierung stellt sich die junge Regisseurin Julia Lwowski an der Oper Halle vor – und sorgt für Aufsehen. Schon der Beginn dürfte den einen oder anderen Abonnenten verstören. In einem Video sehen wir eine junge Frau (Gina-Lisa Maiwald) in einer Theatergarderobe, die dann die Bühne betritt und sich dort in eine Hexe verwandelt. Auf einem Besen reitend geht es hinaus durch die Straßen Halles. Passend dazu dann die erste Bühnenszene. Kein rauschendes Fest im Ambiente des 19. Jahrhunderts bekommt man da zu sehen, sondern eine eher mittelalterliche Szene: Eine Frau auf einem Scheiterhaufen. Ist das eine der Hexen oder doch Violetta Valéry, die Kurtisane aus Verdis Oper, durch die Romanvorlage bekannt als Kameliendame? Es ist Violetta oder besser gesagt eine Violetta, denn ein Blick ins Programmheft zeigt, daß es derer drei gibt. Neben der schon erwähnten Gina-Lisa Maiwald, die den schauspielerischen Part übernimmt, singt und spielt Solen Mainguene und schließlich hat auch noch ein Mann (Reinhard Lehmann) eine vorwiegend stumme Rolle.
Während man also das Personal für die Titelrolle aufgestockt hat, wurde es ansonsten coronabedingt reduziert. Wie man hört, wollte die Regisseurin ein großes mittelalterliches Fest inszenieren, aber die Abstandsregeln ließen das nicht zu, Chor und Orchester wurden stark verkleinert, zu hören ist eine kammermusikalische Fassung der Oper. Das Publikum bekommt zu hören, dass es heute Theater in Ketten erleben könne, und wird aufgefordert, sich im Gedenken an die gestrichene Besetzung zu erheben.
Mag es hier Einschränkungen gegeben haben, ansonsten schöpft die Regisseurin aus dem Vollen und fordert, ja überfordert wohl auch den Zuschauer. Immer wieder kommt Videomaterial parallel zum Bühnengeschehen zum Einsatz, da man außerdem noch der Übersetzung des italienisch gesungenen Textes per Einblendung folgen müsste, weiß man des öfteren nicht, wo man zuerst hinschauen soll. Man fühlt sich an so manchen Volksbühnenabend erinnert.
Ziemlich schnell wird klar – hier geht es nur am Rande um die Liebesgeschichte zwischen Violetta und Alfredo Germont. Die Regisseurin interessiert sich in einem allgemeineren Sinn für Frauenfiguren, für die Klischees, in denen sie auf der Bühne oft dargestellt werden, für die Opferrolle, die sie oft übernehmen müssen. Dafür verlässt sich die Inszenierung nicht auf den Originaltext, da werden auch andere Dinge eingebaut. Und immer wieder Videos, z.B. verstörende Aufnahmen aus einem Schlachthof, die die Schächtung von Rindern zeigen. Der 2. Akt, der eigentlich in einem Landhaus spielt, wird in ein eher zeitloses Bühnenbild versetzt, eine Bretterwand mit einer Reihe von Türen. Irgendwie fühlt man sich an ein Film-Set erinnert, vor allem, weil im Hintergrund ein Kameramann tätig ist. Das Thema Glücksspiel wird aufgenommen, wenn Bündel von Banknoten ins Bild kommen, dann ist auch kurz ein mit Diamanten besetzter Schädel zu sehen. Eine zu Assoziationen einladende Bilderflut stürmt auf den Betrachter ein.
Vor dem 3. Akt, soll es eine kleine Umbaupause geben. Auf den Vorhang wird derweil eine Zeitangabe projiziert und wir erfahren, dass wir nun noch ein zweites Stück erleben, nämlich John Cages „4:33“, coronabedingt allerdings in der Fassung „3:44“. Nun ja, der Scherz gelingt zumindest in dieser Vorstellung nicht ganz, denn die 3:44 min sind noch lange nicht vorbei, als sich der Vorhang öffnet und den Blick auf einen von kahlen Baumstämmen bestandenen Platz freigibt, der offensichtlich einen Friedhof darstellen soll. Das wird spätestens klar, als Filmbilder vom Stadtgottesacker gezeigt werden, die mir bekannt vorkommen (siehe oben). Auch ein opulentes Festmahl, an dem sich Figuren mit Totenköpfen beteiligen, ist zu bewundern. Man denkt an die Feste, die in anderen Ländern auf Friedhöfen gefeiert werden, und man stellt natürlich auch Vergleiche an zwischen der Tuberkulose, die zu Verdis Zeiten die Menschen dahinraffte, und der Corona-Pandemie, die in vielerlei Hinsicht heute ihre Opfer fordert.
Nach nur knapp zwei Stunden ist diese „La Traviata“ vorbei, Liebhaberinnen und Liebhaber der klassischen Oper werden vielleicht mit dem Kopf schütteln. Aus meiner Sicht ist es eine Inszenierung, die sehr gut in das Konzept der Oper Halle unter der derzeitigen Intendanz passt: Die Oper vom Staub befreien, der sich im Lauf vieler Jahrzehnte auf ihr abgelagert hat, Stücke danach zu befragen, was sie uns heute noch oder wieder oder auch ganz neu zu sagen haben, Zuschauer ins Theater zu holen, die mit neuen Sehgewohnheiten aufgewachsen sind. Wenn diese Spielzeit hält, was die erste Premiere verspricht, so könnte es ein gelungener Abschluss werden für das Intendantenteam, das in Halle angetreten ist, um die Oper zu erneuern. (Und dafür schon einiges geleistet hat!)
» La Traviata
Regie Julia Lwowski. Musikalische Leitung Jose Miguel Esandi. Kostüme Lea Søvsø. Bühne Yassu Yabara. Video Martin Mallon. Licht Konrad Dietze. Dramaturgie Michael v. zur Mühlen / Friederike Brendler. Mit: Solen Mainguené, Gina-Lisa Maiwald, Reinhard Lehmann, Yulia Sokolik, Uta Eckert, Matthias Koziorowski, Andrii Chakovk, Robert Sellier, Gerd Vogel, Michael Zehe, dem Chor der Oper Halle, der Staatskapelle Halle und der Statisterie der Oper Halle.
Weitere Vorstellungen am 4. und 25. Oktober, am 14. November und 27. Dezember 2020 sowie am 29. Januar und 22. April 2021