Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ ist einer der Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts und das, obwohl das Werk erst 1982 und damit 47 Jahre nach dem Tod des Autors erschienen ist. Pessoa ist mit der Planung des Werks offensichtlich nicht fertig geworden, denn es wurde aus dem Nachlass herausgegeben und es gibt verschiedene Fassungen des Buches, die sich in der Anordnung der etwa 500 kurzen Texte unterscheiden. Der Großteil dieser Texte steht unter der Überschrift einer „Autobiographie ohne Ereignisse“ und wird dem Buchhalter Bernardo Soares zugeschrieben, wobei man wissen muss, daß Pessoa selbst als Buchhalter arbeitete. Eine wirkliche Handlung findet man kaum, es sind tagebuchartige Selbstreflexionen und Gedankensammlungen – nicht gerade die literarische Vorlage, bei der man sich eine Umsetzung auf der Bühne gut vorstellen kann.
Aber Sebastian Hartmann hat bereits mit seinem „Ulysses“ vor einigen Jahren am Deutschen Theater bewiesen, dass er mit literarischen Werken der Moderne, die mit neuen Formen experimentieren, umgehen kann. Zudem haben seine letzten Arbeiten gezeigt, dass ihn das Erzählen einer linearen Geschichte kaum reizt, aus Werken wie „Schuld und Sühne“ oder dem „Zauberberg“ filterte er eine Grundessenz, für die er dann bildgewaltige Umsetzungen auf der Bühne fand. Sicherlich verstörend für manchen Zuschauer, aber anregende Theaterabende für alle, die sich darauf einlassen wollten.
Eines der Themen, um das es im Buch der Unruhe immer wieder geht, ist der Schlaf. Und dass Schlaf und Traum eng zusammenhängen, weiß man auf dem Theater spätestens seit Hamlet. Dass Hartmann sich besonders für dieses Thema interessierte, beweist ein Hinweis im Abspann: Dank an einen Wissenschaftler aus einem Dresdner Schlaflabor. Leider habe ich erst nach dem Sehen des Livestreams eine Art digitales Programmheft entdeckt, in dem der Ablauf der acht Theaterstunden den Phasen des menschlichen Schlafes gegenübergestellt wird. Und wenn es schon um Schlaf und Traum gehen soll, warum dann nicht die besten Voraussetzungen dafür schaffen? Auch wenn Zuschauer zu diesem Abend nicht direkt zugelassen sind – er wird im Livestream übertragen und die Übertragungszeit von 22 bis 6 Uhr ist nun mal die beste Schlafenszeit.
Nicht nur, weil er seit einiger Zeit die Bühnenbilder für seine Inszenierungen selbst gestaltet, hat sich Hartmann zuletzt oft der bildenden Kunst genähert. So war auch das Bühnenbild der Dresdner Inszenierung „Erniedrigte und Beleidigte“, das jeweils während der Vorstellung durch die Schauspieler nach einer Idee von Tilo Baumgärtel entstand, Gegenstand einer Ausstellung im Leipziger Museum der bildenden Künste. Das Buch der Unruhe begibt sich nun direkt ins Museum, in den Lichthof des Dresdner Albertinums. Es beginnt mit einer langsamen Kamerafahrt über diesen großen freien Raum. Da steht eine Person unter einer Lampe, man erkennt Torsten Ranft, mittlerweile einer der gestandenen Dresdner Hartmann-Spieler. Dann setzt er sich in Bewegung und läuft und läuft um den Lichthof, Runde um Runde, zwei Kameraperspektiven wechseln sich regelmäßig ab, es ist wohl eine Dreiviertelstunde vergangen, bis er schließlich stehenbleibt und mit den ersten Pessoa-Texten beginnt. Zwischendurch sieht man eine weißgekleidete Frau (Gina Calinoiu), die mal erwartungsvoll, mal staunend oder fragend in die Kamera blickt.
Was mit dieser langen Eröffnungszene beginnt, ist ein nur schwer zu beschreibender Strom von Bildern, der durchaus etwas Traumhaftes hat. Und durch die Videoübertragung wahrscheinlich auch noch zusätzlich bekommt. Kameras wählen aus, was der Zuschauer zu sehen bekommt, es wird mit Überblendungen und Verfremdungen in Bild und Ton gearbeitet. Die benachbarte Skulpturensammlung wird ebenfalls mit genutzt. Neben Cordelia Wege sind einige Dresdner Ensemblemitglieder dabei, die jetzt schon zum wiederholten Mal mit Hartmann zusammenarbeiten (Julia Aschenbrenner, Nadja Stübiger, Fanny Staffa, Yassin Trabelsi und Viktor Tremmel), andere sehe ich zum ersten Mal (Marin Blülle, Simon Werdelis). Und dann gibt es noch eine Gruppe von zehn Laiendartsellern, die ihren Teil zum Gelingen des Abends beitragen und auch selbst Texte von Pessoa vortragen. Bilder, in denen man den Schauspielern in Großaufnahmen ins Gesicht schaut, wechseln mit anderen, in denen man sich erst orientieren muss. Alles ist unterlegt von eindringlicher Livemusik, die die Atmosphäre dieser Nacht wesentlich mitbestimmt. Da taucht wieder eine große Leinwand auf, auf der ein Bild entsteht, da sieht man eine Frau, die mit einem Gewehr auf einen schreienden Mann zielt, dort ein Paar, das in die Betrachtung von Skulpturen versunken scheint. Der Schädel einer solchen Skulptur verändert computeranimiert seine Form, dann tauchen plötzlich Bilder einer Bahnstation auf, man sieht eine alte Dampflok, die Station heißt Unruhe, auf dem Bahnsteig scheinen die Betten zu stehen, die man eben noch auf der Bühne gesehen hat. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit oder eben zwischen realem Geschehen auf der Bühne und Videoeffekt verschwimmen, nachdrücklicher, als das bei einem realen Theaterbesuch möglich wäre. Man hört die Worte, dass ja vielleicht aller Sinn im Schlaf liege und man hört Hartmanns von Poe übernommenes Motto „all that we see or seem is but a dream within a dream“. Wann hätte es je besser gepasst? Schreie, Flammen, bunte Gestalten, die zu bunten Flecken verschwimmen – sehe und höre ich das oder war ich doch kurz eingenickt? Dann auch wieder ganz reale Momente – die leise Frage aus dem Hintergrund „Sind wir schon drauf?“
Stunde um Stunde gibt man sich einer Art Bewusstseins- oder besser Unterbewusstseinsstrom hin, draußen beginnt es mittlerweile zu dämmern in dieser Frühsommernacht. Auch die Bühne, eben noch dunkel und nur von leuchtenden Flecken bevölkert, wird nun von einem fahlen Dämmerlicht erhellt. Und dann taucht Torsten Ranft wieder auf und beginnt, seine Runden zu drehen, wieder und immer wieder. Für einen kurzen Moment scheint auch Hartmann selbst da zu sein und mitzulaufen. Oder war das nur ein Trugbild? Erst als wirklich der Abspann über den Bildschirm flimmert, wage ich mich zu erheben. Eine der Theaternächte, die man wohl nur sehr selten erleben kann, liegt hinter mir. Fast versöhnt dieses virtuelle Erlebnis mit dem monatelangen Lockdown der Theater, aber nur fast.
» Das Buch der Unruhe
Sebastian Hartmann nach Fernando Pessoa, Staatsschauspiel Dresden
Kostüm Adriana Braga Peretzki, (Live)Musik Samuel Wiese und Philipp Thimm, Lichtdesign Lothar Baumgarte, Animation Tilo Baumgärtel, Licht Johannes Zink, Dramaturgie Jörg Bochow. Mit Luise Aschenbrenner, Marin Blülle, Gina Calinoiu, Torsten Ranft, Fanny Staffa, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel, Cordelia Wege und Simon Werdelis.
Aufführungsdauer 8 Stunden.