überaus bunt und unglaublich nah – sascha hawemanns kirschgarten in dortmund

So nah sind wir der Ranjewskaja und den ihren in der Tat noch nicht gekommen. Ist doch Tschechows Kirschgarten ein Stück fürs große Ensemble und die große Bühne. Das große und, so viel sei schon veraten, tolle Ensemble gibt es am Schauspiel Dortmund auch. Sascha Hawemann hat die Geschichte der gutsherrlichen Insolvenzverschleppung aber nun mit viel (russischer) Seele in die intime Studiobühne versetzt.

Fast raumfüllend steht hier ein Holzpodest für das alte Gutshaus, das, genau wie der berühmte Kirschgarten, bald für immer verloren ist. Zu Anfang noch verhüllt von einem roten Vorhang, den der Diener Firs langsam aufzieht und so den Blick freigibt auf eine Menge leerer Stühle – stellvertretend für und so verschieden wie all die Menschen, deren Geschichten mit diesem Ort verbunden sind.

Der Kirschgarten © Birgit Hupfeld
Der Kirschgarten © Birgit Hupfeld

An drei Seiten drumherum ein schmaler Gang, dann in einer Reihe die Zuschauer, gerademal eine Armlänge von Spiel und Spielern entfernt. Handausstrecken möglich und Füsse einziehen manches Mal nötig. Dabei ist es beileibe kein Kirschgärtchen, das Hawemann hier anpflanzt. Die Gefühle sind so groß wie eh und die Verzweiflung tief. Das Grundgefühl der essentiellen Haltlosigkeit, das das Ensemble den Figuren mitgibt, die Schwierigkeit, lieb gewonnenes los- und alte Sicherheiten zu verlassen und alles noch und sich einmal ganz neu zu denken, das alles bringt die tschechowschen Gestalten nicht nur räumlich, sondern auch emotional ganz nah ans Heute.

Genauso war es vor dem Unglück.
Welchem Unglück?
Der Freiheit.

Die Ranjewskaja suchte einst das Weite, weil sie die Erinnerung an den ertrunkenen Sohn nicht mehr aushielt. Im Ausland hat sie ihr Geld durchgebracht hat und weigert sich nun so beharrlich wie sentimental zu erkennen, dass hier auch nichts mehr zu retten ist. Noch während das Gut unter den Hammer kommt (und ausgerechnet an den ehemaligen Leibeigenen und Neugeschäftsmann Lopachin geht), feiert man im Guthaus ein rauschendes Fest. Am Ende bleibt allen nur die Abreise – in unbekannte Leben.

Aber nochmal zurück auf Anfang: Schon völlig überdreht kommt die Gesellschaft aus dem Pariser Exil heim. Einer Reise nach Jerusalem gleich rennt die Entourage ein zwei, nein: dreivierfünfmal um das Spielpodest und bringt den Abend direkt auf Betriebstemperatur. Und da hält er sich auch über die zweieinhalb Stunden Spieldauer. Mit Kirschen aus Einmachgläsern und sauren Gurken; Wodka und Schampus und jeder Menge Konfetti sind wir auf einer Art Kindergeburtstag viel zu alt gewordener Sehnsüchte, in einer kunterbunten Kaninchen-aus-dem-Hut-Zirkusvorstellung – ohne Netz und doppelten Boden. Es wird geliebt und doch kommt man nicht zusammen, es wird in Erinnerungen geschwelgt und vor anderen geflohen, es wird verzweifelt und doch weitergefeiert: Tanz! Tanz! Tanz! auf dem Vulkan. Da wundert es gar kein bisschen, dass Lopachin mit seinen marktkonformen Abholz-Rettungsplänen keinen Fuß auf den Boden bekommt.

Zum Tanzen braucht es Musik und die kommt bewährterweise von Alexander Xell Dafov. Und ist hier – zwischen Schostakowitsch, russischem Schlager und Partytechno – noch stärker als sonst viel mehr als ein bloßer Begleiter. Sie scheint den Figuren den Rhythmus förmlich vorzugeben,  sie rasant von einer in die nächste Gemütsverfassung zu stürzen. Bis Frank Gensers Lopachin am Ende das Kommando übernimmt. Musik! schreit der Neu-Gutsbesitzer und Kirschgarten-Parzelleur, Lauter!

Der Kirschgarten © Birgit Hupfeld Björn Gabriel Merle Wasmuth Alexander Xell Dafov (Musiker)
Der Kirschgarten © Birgit Hupfeld

Zarte und innige Szenen mischen sich unter die herrlich-bunte, theatrale Kraftmeierei – Denn Sascha Hawemann wäre nicht Hawemann, wenn nicht hinter jedem schrägen Auftritt, jeder Zirkusnummer die Verweiflung, hinter jedem Lachen das Weinen, hinter jeder fröhlichen Fassade die verwundete Seele durchschiene.

Bettina Lieder als Warja im stummen Schrei gefangen zwischen Herrsch- und Sehnsucht. Merle Wasmuths Anja am Seil in der Bühnenmitte schwingend und die Bodenhaftung verlierend – wie auf einer Schaukel am Kirschbaum, nur, dass es nicht gen Himmel geht. Drei Brummkreisel, die wie materialisierte Kindheitsgeborgenheiten über den Holzboden treiben und schließlich stehen bleiben.

Der Kirschgarten © Birgit Hupfeld
Der Kirschgarten © Birgit Hupfeld

Ich rede immer solche Sachen.
Ist alles Quatsch.

Der ewige Student Trofimow, mitschuldig am Tod des Sohnes, unglücklich verliebt in die Tochter wie wohl sich über der Liebe wähnend, spuckt dem Familienclan die (wahren) Worte wie die eingemachten Kirschen vor die Füße. Für sein eigenes Elend hat er keine Worte. Mit großer Brille in derbem schwarz ist er bei Björn Gabriel ganz existentiell und dennoch irgendwie schwer zu packen, auf jedem Fall aber eine der spannunsgreichsten und intensivsten Figuren des Abends.

Marlena Keil lässt ihre Dunjascha schön tragikomisch und immer aufs Neue beim Versuch scheitern, jemand zu sein, der sie nicht ist, Caroline Hanke zaubert als verlorenes Artistenkind trickreich gegen den Abwärtstrend. Und last but not least treibt Uwe Schmieder als Semjon Jepichodow auf Freiersfüßen den Slapstick zu kuriosen Blüten. Hochkomisch, immer exakt einen wohlüberlegten Zentimeter neben peinlich, gibt er dabei seine Figur nicht einen Moment lang der Lächerlichkeit preis – Chapeau! Als Firs hingegen tapert er als roter Faden durchs verlorene Gut; als letzte, beinahe kindlich rührige und sehr berührende Reminiszenz an längst vergangene Zeiten.

Da ist nichts zu machen, das war Gottes Wille.

In der Schlussszene werfen alle, aufgereiht an der Bühnenwand, noch einen letzten, sehnsuchtsvollen Blick auf die imaginären Kirschbäume und der alte Firs, den sie im es-geht-irgendwie-weiter-Modus schon vergessen haben, streut noch einmal Konfetti über die ehemaligen Kirschgärtner. Aus einem großen Eimer und bis zum letzten Flöckchen. Im Gegenlicht der Scheinwerfer sieht es aus, als wäre es die Asche der abgeholzten Bäume. Und die der abgelebten Träume.
Theatermagie, incredibly close. Jetzt einen Wodka und ’ne saure Gurke.


» Der Kirschgarten
Regie Sascha Hawemann. Bühne Wolf Gutjahr. Kostüme Hildegard Altmeyer. Mit Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth, Bettina Lieder, Ekkehard Freye, Frank Genser, Björn Gabriel, Uwe Schmieder, Caroline Hanke, Marlena Keil, Raafat Daboul und Alexander Xell Dafov

Wieder am 11. / 18.  / 19. / 27. und 28. Januar 2018

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