volksbühnenbesuch: martin wuttke und birgit minichmayr in castorfs „judith“

Eine Castorf-Premiere jagt die andere. In den nachtkritik-Charts steht zwar immer noch Sebastian Hartmanns „Berlin-Alexanderplatz“ auf Platz eins, nun aber dicht gefolgt von Castorfs neuester Tat an der Volksbühne: „Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn Moliere“. Doch reihesiebenmitte kann leider nicht bei jeder Premiere dabei sein und muss nun erst einmal eine Betrachtung zur vorletzten Castorf-Produktion an der Volksbühne nachholen. Zu Jahresbeginn hatte „Judith“ Premiere, ein Drama aus dem 19. Jahrhundert von Friedrich Hebbel und damit schon etwas Besonderes für den in letzter Zeit vor allem auf Romanvorlagen spezialisierten Regisseur. Die Kritiken waren im Januar sehr widersprüchlich. Während man zum einen lesen konnte, diesmal hätte Castorf zur Pause Schluss machen sollen, schrieben andere, dass man in der zweiten Hälfte für das Ertragen der ersten belohnt worden wäre. Da bleibt dem Theaterfreund nichts anderes übrig, als selbst nach Berlin zu fahren, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können.

Hebbels Drama beschäftigt sich mit einem biblischen Mythos. Der assyrische Feldherr Holofernes belagert die hebräische Stadt Bethulien. Die Bürger der Stadt haben keine Hoffnung auf Rettung und schwanken zwischen Kapitulation und Selbstmord. Die schöne Witwe Judith jedoch begibt sich ins Feldlager des Holofernes. Dieser ist von ihr so betört, dass er eine Liebesnacht mit ihr verbringt, die er aber nicht überlebt – Judith enthauptet den schlafenden Holofernes. Das führerlose Heer der Assyrer flüchtet und die Hebräer sind gerettet. Eine blutige Geschichte um Eros und Thanatos also. Als Judith und Holofernes stehen zwei alte Bekannte als Gäste auf der Bühne: Birgit Minichmayr und Martin Wuttke. Mit dabei sind auch in verschiedenen Rollen Mex Schlüpfer sowie Jasna Fritzi Bauer als Judiths Magd Mirza. Außerdem gibt es noch einen großen Chor, der vor allem den Part der Bürger Bethuliens übernimmt, aber auch anderes zu tun bekommt, dazu später mehr.

Wie sehr die Volksbühne den im letzten Jahr verstorbenen Bert Neumann vermisst, kann man auch daran sehen, dass er auf dem Programmzettel als verantwortlich für den Raum angegeben wird. Aber die Gestaltung des Innenraumes der Volksbühne für die letzten zwei Castorf-Spielzeiten war ja auch seine Idee: Die Stuhlreihen wurden entfernt und der Zuschauerraum asphaltiert, so dass nun ein großer Raum entstanden ist, der variabel bespielt werden kann. Bei „Judith“ sitzen die Zuschauer auf der eigentlichen Bühne, auf Kunststoffstühlen, die ich auch nach 5 Stunden keineswegs unbequem fand. Gespielt wird auf der asphaltierten Schräge des Zuschauerraums, die überdimensionalen Sitzkissen, auf denen man bei den „Brüdern Karamasow“ Platz nimmt, türmen sich in der Mitte der Bühne und werden ab und an von den Schauspielern erklommen. Im Vordergrund eine Wasserfläche, links mehrere Zelte und hoch oben natürlich die unvermeidliche Videowand.

Wer sich durch das Lesen des Hebbelschen Dramas gut vorbereitet glaubte, wird schon nach den ersten Worten von Martin Wuttke enttäuscht. Denn der Text stammt nicht von Hebbel, sondern wohl aus Antonin Artauds Roman „Heliogabal oder Der Anarchist auf dem Thron“, einer ziemlich blutrünstigen Geschichte, die im Laufe des Abends immer wieder auftauchen wird und in der abgeschnittene Körperteile und der Tod in einer Latrine eine große Rolle spielen. Während Wuttke redet, sieht man auf der Videowand Bilder aus dem Orient: sind es antike Ruinen oder ist es eine gerade zerstörte syrische Stadt? Das bleibt unklar. Wuttke ist schauspielerisch das Erlebnis des Abends. Wie er – mal im goldenen Gewand, mal in kriegerischer Uniform – über die Bühne rennt, seine Stimme in allen Tonlagen einsetzt und dabei stellenweise bis in die Unverständlichkeit absinkt, wie er sein böse grinsendes Gesicht in die Kamera hält oder mit seinem eigenen abgschlagenen Kopf Fußball spielt – sehenswert! Der Kopf, der dem Holofernes ja erst am Ende abgetrennt wird, ist nämlich von Anfang an dabei und wird ausgiebig als Requisite genutzt.

Neben Artaud weist das Programmheft „Der Hass“ von Jean Baudrillard und Francois Ewald als Textquelle aus. Daraus dürften wohl lange Passagen stammen, die der Chor in einer lange währenden Szene nach der Pause bietet. Diese Szene beginnt mit den Gesprächen der Bürger in der belagerten Stadt nach Hebbel, kommt dann aber zu anderen Texten und will kein Ende finden – immer noch eine neue Meinung zu den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Themen. Eine lange und ermüdende Szene, eine Herausforderung für den Zuschauer, mancher mag sie entnervend finden, aber das ist die Anstrengung, die das Castorf-Theater seinen Zuschauern abfordert. Im Anschluss daran darf Mex Schlüpfer die Heliogabal-Geschichte bis zum grausigen Ende erzählen.

Erst dann tritt wieder die Auseinandersetzung zwischen Judith und Holofernes in den Vordergrund. Wie um den Abend mit noch mehr Lokalkolorit auszumalen, betritt nun ein echtes Kamel die Bühne und bestätigt die Erfahrung, dass sich lebende Tiere auf der Bühne gern erleichtern. Dann die Tötungsszene – geköpft wird Holofernes eigentlich nicht, Judith und Mirza ersticken ihn, der sich eben noch vor der Glotze an Pornos efreute, unter einer Decke zu den Klängen von „The Power of Love“. Doch als dann Judith mit dem Kopf des Holofernes über die Bühne geht, begegnet sie wem? Natürlich Holofernes! Ein Bild dafür, dass die Köpfe des Bösen wie bei der Hydra immer wieder nachwachsen? Oder dafür, daß Judith vielleicht Holofernes‘ Kind im Leibe trägt? Oder einfach nur dafür, daß der Reigen der Tyrannen lang ist, vor und nach Holofernes, kein Tyrannenmord hat daran je etwas geändert. Ob die Zuschauer nach einem anstrengenden Abend auf dem Heimweg noch viel darüber anchdenken werden? Gefallen hat es nicht nur dem Rezensenten, sondern wohl auch den meisten anderen im ausverkauften Haus, die fast alle auch nach der Pause geblieben sind und ausgiebig applaudierten.

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