Marina Frenk | ewig her und gar nicht wahr

wer bin ich und wenn ja, warum?

Ein Mädchen, verirrt zwischen lauter Fremden am überfüllten Strand. Ein Bub, der  auf der Flucht 1941 Freunde, Hund und Großmutter zurücklassen muss. Die Eltern im Auto auf der Flucht nach Deutschland. Der kleine Sohn in einem Berliner Jetzt, der wissen will, warum er lebt. Vielstimmig ist die Familiengeschichte, die Marina Frenk in ihrem ersten Roman zum Klingen bringt - voll gelebten Lebens zugleich wissend und suchend und sehr berührend.

Marina Frenk "Ewig her und gar nicht wahr"
Marina Frenk „ewig her und gar nicht wahr“

Ein kleines Mädchen verirrt zwischen Liegestühlen, Sonnenschirmen und wildfremden Badegästen, das die Eltern am Urlaubsstrand nicht wiederfinden kann. Ein Moment des Schreckens, der aber nicht ohne eine gewisse Faszination bleibt. So erinnert sich Kira, die Protagonistin des Romans, gleich im Eingangskapitel an ihr kurzzeitiges Verlorengehen  in irgendeinem Sommer in den 1980er Jahren.

Und wer kennt es nicht, dieses ur-Verlorenheitsgefühl? Nicht nur hier, in vielen Szenen des Romans kommen beim Lesen längst vergessene oder nie benannte  Erlebnisse, Erinnerungen oder Stimmungen wieder zum Vorschein, die man aber selbst nie so schön und klug, klar und zugleich ambivalent in Worte kleiden können wie Marina Frenk die Geschichte der jungen Malerin Kira. Letztere wird zum Glück schon zwei Seiten später zwischen Strandtüchern und Sandeimern wiedergefunden. Aber sie bleibt eine Suchende, die im Laufe des Buches erneut verloren zu gehen droht. Diesmal nicht den Eltern, sondern sich selbst.

Lesungen im Rahmen von Leipzig liest:

12. März 2020 | 20 Uhr
Alte Nikolaischule
und anschließend bei der Langen Leipziger
Lesenacht in der Moritzbastei

14. März 2020 | 17:30 Uhr
Haus des Buches

Kira flieht als Kind mit ihren Eltern aus Moldawien nach Deutschland, wird Malerin und scheint im Berlin der 90er Jahre kurz vor dem internationalen Durchbruch zu stehen. Ein paar Jahre später gibt sie lustlos Kindermalkurse, hat ihr Atelier auf den staubigen, unbeheizten Dachboden verbannt und unten, in der Altbauwohnung, warten der geliebte kleine Sohn und der Partner, Marc, von dem sie sich zugleich angezogen und abgestoßen fühlt. Zunehmend unbehaust, fremd und hilflos steckt sie fest im Kleinfamilienwohlstandsdasein.

Von diesem Berlin, jetzt aus springen die kurzen Kapitel munter und nur scheinbar zufällig durch die Zeiten und Orte und setzen Schlaglichter – nicht nur in Kiras eigener, sondern in einer ganzen Familiengeschichte zwischen den 1940er Jahren und heute und zwischen Moldawien, Sowjetunion, Berlin, Köln und Haifa. Frenk erzählt vom Großvater Kiras, der als kleiner Junge fliehen muss, von der Großmutter als junger, lebenshungriger Frau nach dem Krieg, von den Eltern in der Sowjetunion und später im Deutschland. Von der Schwangerschaft, der ersten Ausstellung, der Seelenfreundin Nele. Eine Geschichte, nein, viele Geschichten voller Brüche und Aufbrüche, Heimatverlieren und Neubeginnen, Einsamkeit und Verlorensein, aber auch voller Mut und Liebe. Ein beeindruckender Flickenteppich Leben wird hier gewebt, dessen Fäden sich lose durch Raum und Zeit ziehen, sich ver- und entwirren und doch immer wieder zusammenlaufen.

Was denkst du?
Nichts.

Je fassbarer die Familiengeschichten-Fäden in der Vergangenheit werden, desto mehr scheinen Realität und Fantasie im Jetzt-Zeit-Ich der Heldin zu verschwimmen. Eine Frau, die, anders als ihre Vorfahren, ohne größere äußere Not mit einer großen inneren zu kämpfen hat, die versucht sich zu spüren, zu sich selbst zu finden und dabei mehr und mehr verloren geht. Sind wir jetzt mit dem jungen Paar am Ostseestrand oder doch in einen von Kiras Bildern? Ist Marc wirklich der ambitionslose Wicht, der sich schon längst aus der Beziehung verabschiedet hat, als der er beschrieben wird? Raffiniert lässt die Autorin ein Stück weit den Leser entscheiden über Wahn und Wirklichkeit, über etwaige Parallelen und mögliche Kausalitäten, hält das Ganze in wirkungsvoller Schwebe und schafft es so, einen Seelenzustand sehr eindringlich erfahrbar zu machen.

Das tut sie mit einer eigenwilligen, mutigen, unverbrauchten Stimme und einer ganz eigenen Sprache: Genau beobachtend, klar und vielstimmig, bitter und zärtlich, fragend und wissend, nüchtern und doch voller Poesie – und auf jeder Seite lesenswert.


» ewig her und gar nicht wahr
Marina Frenk. Klaus Wagenbach Verlag 2020, 240 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag, 22,– €


Marina Frenk. © Emanuela Danielewicz
Marina Frenk. © Emanuela Danielewicz

Die Schauspielerin und Musikerin Marina Frenk war vor ein paar Jahren am Leipziger Centraltheater engagiert und hier unter anderem in „Die Räuber“ (Martin Laberenz), bei Mareike Mikats „Das Abhandenkommen von Staaten“ und mit ihrem Soloabend „Schlafes Bruder“ zu sehen. Danach spielte sie u.a. am Schauspiel Köln und am Berliner Gorki Theater und ist gerade am Schauspiel Bochum in » Johan Simons „Iwanow“-Inszenierung zu sehen. Sie macht Musik u.a. mit Daniel Kahn in der Klezmer-Rock-Band „The Disorientalists“ und in der Formation „Baba Dunyah“. 2016 erhielt sie zusammen mit Sibylle Berg den Hörspielpreis der Kriegsblinden für „Und jetzt: die Welt!“. Ihr Hörspiel „Jenseits der Kastanien“ wurde mit dem CIVIS Radiopreis  ausgezeichnet. „ewig her und gar nicht wahr“ ist ihr erster Roman, erschienen im Berliner Wagenbach Verlag.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert