Anna Karenina oder Arme Leute | Gorki Theater Berlin

tolstoi und dostojewski auf den gleisen der russischen geschichte

Centraltheaterfreunde haben ihn sicher noch in guter Erinnerung: Johannes Kirsten, von 2008 bis 2013 Dramaturg für viele Produktionen vor allem in der Skala, aber auch auf der großen Bühne. Anschließend war er am Schauspiel Hannover tätig und ist nun am Berliner Gorki-Theater. Die erste Produktion, die er dort betreute, stammt von Regisseur Oliver Frjlić. Unter dem Titel „Anna Karenina oder Arme Leute“ wird Tolstois bekannter Roman mit Dostojewskis Erstling gekreuzt.

Inhaltlich durchaus plausibel, handelt es sich doch jeweils um Erzählungen über unglückliche Liebesbeziehungen. Während Tolstoi seine Geschichte in der Welt der Reichen und Schönen ansiedelt, begegnen uns bei Dostojewski die titelgebenden armen Leute.

Die Bühne für diesen Abend wird von sich kreuzenden Schienensträngen bestimmt. Sie füllen die Bühne so gut aus, daß die Schauspieler nur wenig Raum haben und manchmal über die Schienen stolpern müssen. In etlichen Szenen sitzen oder stehen sie allerdings auf Wagen, die auf den Schienen an die Bühnenrampe fahren. Im Hintergrund der Bühne steht ein überlebensgroßes Bild von Zar Nikolai II.

Szenen aus beiden Romanen sind ineinander verwoben, doch die Kostüme lassen kein Verwechseln zu: goldglänzend und in Pelze gewandet Tolstois Adlige, einfach und ärmlich die armen Leute. Immer wieder entstehen sehr schöne Bilder. So zum Beispiel durch den Pianisten, der mit seinem Instrument in der Luft hängt, förmlich über allem schwebt. Dann kommt an einer Stelle Brot ins Spiel. Im Programmheft kann man es nachlesen: Pro Jahr werden in Deutschland 1,7 Millionen Tonnen Brot verschwendet. Umgerechnet auf zwei Personen macht das 100 Brotlaibe zu 500g. Und diese 100 Brotlaibe haben den Weg auf die Bühne gefunden und werden hier vielfältig genutzt, mal nur dafür, um darauf zu stehen, mal, um es zu essen, dann wieder dient ein Brotlaib dazu, die Geburt des Kindes von Kitty und Lewin (Hanh Mai Thi Tran und Jonas Dassler) darzustellen.

Doch bei aller Mühe, die sich die Schauspieler geben (allen voran Lea Draeger als Anna, Till Wonka als Karenin und Taner Sahintürk als Wronski) – einige Szenen wirken doch etwas behäbig und dienen nur der Illustration von Tolstois Roman.

Spannend wird es immer dann, wenn die beiden Erzählungen sich aneinander reiben: dann wird Energie frei. So gibt es bei Tolstoi eine Szene, in der es um ein Pferderennen geht. Hier werden die Personen aus Dostojewskis Roman zu den Pferden, die als gequälte Kreaturen gezeigt werden. Einer der Schauspieler hängt dann mit Pferdekopf als Erhängter über der Bühne. Und noch einmal taucht ein Pferd auf: Wenn Annas Sohn Serjosha Brechts Gedicht „Ein Pferd klagt an“ vorträgt. Es endet mit den Worten: „So helft ihnen doch! Und tut das in Bälde! Sonst passiert euch etwas das ihr nicht für möglich haltet!“

Und dieses Unmögliche passiert dann tatsächlich nach der Pause. Jetzt wacht nicht mehr der Zar, sondern Wladimir Iljitsch Lenins Porträt über die Bühne. Nun bestimmen die armen Leute die Szene. Zunächst Makar Dewuschkin (Emre Aksizoğlu), der mit einem langen Monolog eine prächtige Einkaufsstraße in einer russischen Metropole schildert und seine dort stattgefundene Begegnung mit einem zerlumpten, frierenden Knaben. Noch sind die Armen hier die Geknechteten und Passiven. Doch dann erscheint Warwara Dobrosjolowa (Anastasia Gubareva) mit einer Pistole in der Hand. Tolstois adlige Frauen werden vor die Wahl gestellt. Entweder sie unterstützen die Revolution und erschießen ihre Männer oder sie sind selbst dran. Proletarische und feministische Revolution scheinen hier Hand in Hand zu gehen.

Dass es nicht ganz so einfach ist, verdeutlichen Warwaras Worte: „Die Frau ist das Proletariat der Partei.“ Bei Dostojewski heiratet Warwara einen reichen Witwer, um ihrer materiellen Not zu entkommen. Diese Verheiratung wird hier angedeutet, dann aber fällt wieder ein Schuss und der Bräutigam Bykow (Mehmet Yilmaz) sinkt zu Boden. Das passiert nun hinter einem Porträt von Putin, das mittlerweile an Stelle von Lenin auf der Bühne steht. Die letzte Szene des Abends: Warware zerreißt das Putinbild und tritt hindurch ins Freie.

Auch wenn der erste Teil des Abends seine Längen hatte – das Geschehen nach der Pause entschädigt den Zuschauer vollauf. Viel Beifall, sogar Bravo-Rufe sind zu hören.

PS: In eigener Sache: Viele Grüße an die Souffleuse aus dem DT


» Anna Karenina oder Arme Leute
Nach Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski in einer Fassung von Oliver Frljić und Ludwig Haugk. Regie Oliver Frljić. Bühne Igor Pauška. Kostüme Sandra Dekanić. Musik Daniel Regenberg. Dramaturgie Johannes Kirsten. Mit Emre Aksızoğlu, Jonas Dassler, Lea Draeger, Anastasia Gubareva, Abak Safaei-Rad, Hanh Mai Thi Tran, Taner Şahintürk, Falilou Seck, Till Wonka, Mehmet Yılmaz.
Premiere am 15. September 2019 | Dauer: 3 Stunden, eine Pause

Next shows: 13. März und 21. April 2020

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