Der Spielplan lässt das zumindest zu, weil die Anfangszeiten aufeinander abgestimmt und die Wege zwischen den Spielstätten speziell im Westen Leipzigs doch recht kurz sind.
Ein echter Höhepunkt war die Eröffnung: „tauberbach“ von Alain Platel. Eigentlich wäre „Tauber Bach“ korrekter, denn ein Teil der eingespielten Musik sind von Gehörlosen gesungene Vokalwerke von J.S. Bach. Erzählt wird die Geschichte einer schizophrenen Frau, die auf einer Müllhalde lebt, Ähnlichkeiten mit bereits verstorbenen Personen sind beabsichtigt. Insgesamt bieten sechs Tänzer Erstaunliches – berührende, zärtliche, spannende Momente, großartige Bilder – diese Inszenierung war sehr berechtigt im Mai beim Berliner Theatertreffen. Viel Beifall vom begeisterten Publikum! Den anschließenden Sektempfang, auf dem Michael Faber und Enrico Lübbe die Gelegenheit hatten, ein paar Worte zu sagen, hätte man sich aber sparen können.
Ein weiterer Höhepunkt in meinen Augen: „Der Dybbuk“, Koproduktion mit dem Schauspiel in der Residenz. Auch diese Performance vermischt Musik und Tanz, der Leipziger Synagogalchor singt jiddische Lieder, die Performerin Anna Natt setzt sich parallel dazu mit einem Dybbuk, nach jüdischem Volksglauben ein bösartiger Totengeist, auseinander. Zu Beginn scheint tänzerisch minutenlang nichts zu passieren, so daß ich kurzzeitig der Veranstaltung etwas zwiespältig gegenübersitze, aber dann nimmt das Geschehen Fahrt auf, dazu die Chormusik – der Abend entwickelt einen eigenartigen Sog, der noch lange nachwirkt, als ich längst durch die kühle Nacht quer durch die Stadt nach Hause radle. Zwei weitere Vorstellungen im November seien empfohlen.
Ein weitere Geschichte, in der Volks- bzw. Aberglaube eine Rolle spielt, war „Vgrashdane“ (Die Eingemauerte) aus Plovdiv. Der Bau einer Brücke fordert ein Opfer – soweit die Geschichte. Vor allem die Form ihrer Darbietung ist ungewöhnlich: Die Bühne erlaubt nur den Blick auf die Beine der Darsteller oder zeigt uns diese nur dann, wenn sie am Boden hocken oder liegen. Tiefpunkt der euro-scene war in meinen Augen das albanische Tanzstück „Extreme makeover – Culture clash II“. Eine Auseinandersetzung mit den Problemen in einer albanisch-deutschen Liebesbeziehung, hier aber dargeboten auf eine derart platte und eindimensionale Art, dass es schon ärgerlich war.
Festivalabschluss dann am Sonntagabend mit „Orphée et Eurydice“ aus Marseille. Nun ja, das Programmheft hat eine Tanzoper nach Gluck in der Bearbeitung von Berlioz angekündigt, da darf man sich wohl nicht beschweren, wenn klassisches Ballett geboten wird. Trotzdem – in die Kategorie „Zeitgenössisches europäisches Theater“ – wofür die euro-scene ja steht – gehörte dieser Abend wohl kaum, mir war er eindeutig zu „klassisch“. Beim Schlussapplaus unterhielten sich zwei Besucher hinter mir: „Das war wieder etwas fürs Leipziger Bildungsbürgertum. Ein schöner Abend, über den man nicht lange nachdenken muss. Weil die Leipziger so etwas mögen, haben sie auch Hartmann weggeekelt.“ Der Feststellung kann ich prinzipiell nur zustimmen, in Sachen euro-scene trifft sie allerdings nicht zu. Das Programm bietet in jedem Jahr immer wieder einiges, was dem Geschmack des „Bildungsbürgers“ kaum entsprechen dürfte.