Der Besuch der alten Dame | Schauspiel Leipzig

der gemischte chor güllen im social-media-konzert

„Aber Ich bin die Hölle geworden“ sagt Claire Zachanassian, ehemals Klara, beim Stelldichein mit ihrer ehemaligen Jugendliebe Alfred. Als schwerreicher und eiskalter Racheengel kehrt sie in die Kleinstadt Güllen, aus der sie einst blutjung, hochschwanger und in Schimpf und Schande verjagt wurde. Allerdings ist dieses Güllen, wie Dürrenmatt ein zeichnet und wie es Nuran David Calis hier in Leipzig auf die Bühne stellt, selbst ein Höllenort, dem man besser schnell wieder verlässt.

Gott zahlt nicht.

Der Besuch der alten Dame @ Rolf Arnold
Der Besuch der alten Dame @ Rolf Arnold

Hochverschuldet die Stadt und verdorbene Selbstdarsteller ihre Bürger von Anfang an: Nie besteht auch nur leiseste Zweifel, dass die schnöde Gier alle unbescholtenen Bürger und ihren -Meister ohne Ausnahme über Leichen gehen lassen wird. Beziehungsweise zumindest über eine Leiche, denn Claire kommt nicht nur mit schräg-mafiöser Unterwelt-Entourage nebst Raubkatze, sondern mit einem so sachlich vorgebrachten wie diabolischen Handel: Die finanzielle Rettung der Stadt für den Mord an Alfred Ill, der sie dereinst ins Unglück stürzte.

Der gemischte Betriebschor singt.

Calis gesteht seinem gut aufgelegten, in Kostüm und Spiel hübsch überzeichneten Ensemble hier keinen freundlichen Charakterzug zu. Der gemischte Chor Güllen ist von Anfang an durchtrieben, niederträchtig und gierig. Die bürgerlichen Fassaden laufen nie Gefahr, mit etwas wie Haltung verwechselt zu werden, und sie fallen schnell. Inhaltlich nicht unpassend, aber doch recht plakativ hebt die Inszenierung das Stück aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ins heutige Social-Media-Zeitalter. Nicht der Mitspieler, sondern der Handy-Screen ist das neue Gegenüber, Likes die Währung und Instagram-Timeline die Selbstdarstellungsfläche, die zudem groß und permanent flackernd über das Bühnengeschehen projiziert wird. Viel mehr als illustratives Element ist das allerdings nicht und läuft sich dementsprechend recht schnell tot.

Darunter aber, für das eigentliche Bühnengeschehen, hat Irina Schicketanz einen bühnenfüllenden, verwinkelt wirkenden Irrgarten aus vollverglasten Räumen gebaut, in dessen Mitte die Suite der Zachanassian inklusive Sarg und einer alles aufzeichnenden Kamera thront (Hinter selbiger steht Andreas Keller: im weißen Rüschenhemd, als meist wortloser, aber einzig wahrhaft diabolischer Dreh- und Angelpunkt). Abwischbare Glasflächen, die nicht nur die Güllener sondern auch gern mal das Publikum verzerrspiegeln. Sind wir nicht alle ein bisschen Güllen? scheint hier die nicht sehr subtile Frage zu sein. Und nein, sind wir an dieser Stelle eher nicht, zu leicht kann man sich beim überdrehten Agieren und ständigem Posieren der gierigen Marionetten da oben mit einem wohlig-schaudernden Überlegenheitsgefühl zurücklehnen.

Dass die verschachtelten Glas-Zimmer den Abend bühnenseitig zugleich auch corona-konform machen, merkt man tatsächlich zunächst nicht: Zu gut will es zur Dürrenmatt’schen Gesellschaft passen – dieses zugleich abgeschottet, aber ständig präsent und sichtbar zu sein. Im zweiten Teil  fällt dann schon schmerzlicher auf, wie die Figuren voneinander getrennt sind und bleiben, dass eine sonst selbstverständliche Nähe, das Körperkontakt fehlt. Der Abend nämlich findet nach allem lustigen, aber auch ein wenig harmlosen Zappeln, Posen und Liken bei permanentem Monitorgeflacker doch noch und trotz allem zu einiger Dichte und Intensität, bevor zum großen Finale der choreographierte Wahnsinn wiederkehrt, mediengerecht Standgericht gehalten, in Schutzanzügen gemeuchelt, Alfred Ill verteilt auf gleich drei blutige Eimer zum Altar des Mammon getragen und der Milliardenscheck der Calis (sic!)-Bank überreicht wird.

Der Besuch der alten Dame @ Rolf Arnold
Der Besuch der alten Dame @ Rolf Arnold

Ich benötige ein starkes alkoholisches Getränk.

Vorher nämlich stechen noch echte, intensive Schauspielermomente aus der Calis’schen Kunterbuntnis heraus. Alina Heipes Steinhäger-trunkener Lehrermonolog der Selbsterkenntnis etwa ist ganz großes Kino – ernst, komisch und prophetisch zugleich. Und Roman Kanonik wird umso eindringlicher und beeindruckender, je stiller er seinen Alfred Ill werden lässt. Eine große Schauspielkraft strahlt da, ein Energiefeld, dass auch noch in der vorletzten Reihe spürbar ist. Wunderbar berührend sein letztes Zusammentreffen mit Claire, die bei Bettina Schmidt trotz aller Abgebrühtheit und Ladylikeness in manchen Momenten immer noch immer die tiefverletzte Klara ist, deren Verlust keine noch so perfide und noch so blutige Rache wieder gut machen kann.

Dafür lohnt der Theaterbesuch. Hoffentlich geht das bald wieder!


» Der Besuch der alten Dame
Friedrich Dürrenmatt. Regie Nuran David Calis. Bühne Irina Schicketanz
Kostüme Johanna Stenzel. Musik Vivan Bhatti.  Video Doreen Schuster, Kai Schadeberg und Fabian Polinski. Dramaturgie Benjamin Große. Licht Jörn Langkabel. Mit Bettina Schmidt, Denis Grafe, Andreas Keller,  Roman Kanonik, Daniela Keckeis, Ellen Neuser, Dirk Lange, Michael Pempelforth,
Alina-Katharin Heipe, Eidin Jalali, Markus Lerch und Yves Hinrichs.

Wieder am: 12. Dezember 2020

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert