Mitte Dezember kam der Vorschlag vom Oberbürgermeister, Enrico Lübbe als Intendanten des Leipziger Schauspiels bis 2027 zu verlängern. Für Lübbe, seit 2013 im Amt, wäre das die zweite Verlängerung und seine Intendanz damit sogar um ein Jahr länger als die Wolfgang Engels in den 2000ern (1995-2008).
Dem Leipziger Lokalblatt war das damals eine schlappe 14-Zeilen-Meldung wert. Ein Für und Wider-Abwägen, eine Diskussion oder gar Überlegungen zu Alternativen in Stadt und Presse – Fehlanzeige. Der Vorschlag scheint uns eher mutlos und bequem als zukunftsweisend, aber durchaus erwartbar und aus Sicht der Stadt nachvollziehbar. Das Haus wird solide geführt, die Publikumszahlen sind stabil, es gibt keine negativen Schlagzeilen, in regelmäßigen Abständen gibt es eine erfreuliche Festivaleinladung und es kostet auch nicht ständig mehr Geld. Alles gut also und weiter so?
Viele werden hier vermutlich nicken, es gibt aber doch auch ein paar andere Stimmen. Die notwendige Diskussion hat nun dankenswerterweise der Kreuzer in seiner Februarausgabe angestoßen. Tobias Prüwer fragt hier, eingedenk der Leipziger Erfahrungen mit überlangen Intendanzen und dezent überspitzt, ob „Lübbe forever“ wirklich das Gebot der Stunde und als solches alternativlos ist. Benennt die latente künstlerische Mutlosigkeit und hat völlig recht, wenn er sagt, dass ein gewisses Klientel eigentlich besonders enthusiastischer Theatergänger den Schauspiel-Inszenierungen fernbleibt. Das fährt seit geraumer Zeit lieber nach Dresden oder Berlin oder auch an die Oper nach Halle.
Es ist eben gerade nicht so, dass – wie es in Jungs Vorschlagsbegründung heißt – „Das Schauspiel Leipzig mit Enrico Lübbe noch weiter ins Zentrum des Stadtgeschehens gerückt“ ist. Wann war denn die letzte Inszenierung Stadtgespräch? Warum lassen sich so wenige Stimmen – und seien es solche der Pro oder der Contra-Seite – zur Intendanz-Sache vernehmen? Alles ein bisschen egal in Leipzig, solang es irgendwie läuft? Zumindest kann es einem so vorkommen. Sehen sich die Entscheider denn überhaupt regelmäßig Aufführungen an? Dabei gesehen wurden sie – als das noch ging – zumindest immer seltener.
Neben den wirklich sehr erfreulichen Festivaleinladungen und Auszeichnungen seit 2013 scheint es bei den Überlegungen auch stark um wirtschaftliche Faktoren zu gehen: „Alle Wirtschaftsjahre unter der Verantwortung von Enrico Lübbe konnten mit einem positiven Jahresergebnis abgeschlossen werden, zuletzt 2019 mit einem positiven Jahresabschluss von über 1 Millionen Euro.“ heißt es in der Beschlussvorlage. Wir sind ja eher Laien in Sachen Stadt- und Theaterfinanzen und lassen uns gern eines Besseren belehren, aber bekommt das Theater nicht jährlich Geld von der Stadt, um daraus möglichst vollumfänglich Kunst zu machen? Oder um am Spielzeitende ein sattes Plus zu präsentieren?
Wirtschaftlich gesehen ist es sicher sinnvoll, nicht lukrative Inszenierungen abzusetzen, wenig Gäste zu beschäftigen und an schlechten Tagen lieber nicht, als vor wenigen Zuschauern zu spielen. Aber ist das auch im Sinne eines Stadttheaters? Ein solches – zumal wenn es das einzige große Sprechtheater am Orte ist – lebt von einem großen, einem vielfältigen Repertoire, in dem die Komödie gleichberechtigt neben dem Klassiker und spannender neuer Dramatik steht. Das gilt sowohl für die Inhalte, die auf die Bühne kommen, als auch für die ästhetischen Herangehensweisen der Regisseurinnen und Regisseure.
Am Schauspiel Leipzig schaut es da mittlerweile schon rein quantitativ ein wenig dünne aus. So verteilten sich die Wiederaufnahmen (aus der letzten Saison) in der Spielzeit 2019/20 bis hinein ins nächste Frühjahr. Man schmückt sich gern mit preisverdächtigen Uraufführungstexten und kreativen Hausregisseuren, aber Produktionen, die nicht von allein gut laufen (und nicht zum Abiturstoff-Bebilderungstheater taugen), verschwinden oft stillschweigend und zügig wieder. Um die Aufführungen zu zählen, die zum Beispiel Kleists „Hermannsschlacht“ – 2019 zum 30. Wiedervereinigungsjubiläum groß angekündigt und zur Spielzeiteröffnung herausgekommen- erlebte, braucht es nicht mal eine ganze Hand. Andere Abende – wie Armin Petras‘ Leipzig auf den Leib geschneidertes „Jeder stirbt für sich allein“ oder Claudia Bauers lustvoller und schrill-grotesker „Ubu“ konnten sich auch nicht übermäßig lang im Spielplan halten.
Philipp Preuss künstlerisch und ästhetische einzigartige Arbeiten sind nie länger als eine Saison zu sehen. Seine jüngste und ebenfalls sehr sehenswerte Inszenierung „Beachhouse“, in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin entstanden und bei den Autorentheatertagen im letzten Oktober ebenda uraufgeführt, werden wir hier in Leipzig vermutlich nie zu sehen bekommen (nach der krankheitsbedingten Leipzig-Premierenverschiebung kam lange kein Nachholtermin und dann der Lockdown.) Das sind aber alles Farben, die ein lebendiger Spielplan braucht und die sich, ungeachtet dem Schielen auf Zuschauerzahlen und Auslastung, ein solches Haus auch leisten muss.
Gewöhnt hat sich das Publikum mittlerweile daran, dass man besser nicht Dienstag- oder Mittwochabend einen Theaterbesuch plant, gespielt wird in der Hauptsache Donnerstag bis Sonntag. Oft ist vor Premieren die große Bühne – schon irgendwie das Aushängeschild eines Theaters – für eine komplette Woche vorstellungsfrei, teils bleibt sie an und vor Feiertagen unerklärlich leer. In den ersten drei Spielzeiten unter Lübbe gab es durchschnittlich je 186 Eigenveranstaltungen auf der großen Bühne, der Schnitt der drei letzten Spielzeiten (2017-19) lag nur noch bei 147. Und da schlagen allein schon gut und gerne 25-30 Weihnachtsmärchen- bzw. Familienstück-Vorstellungen zu Buche. Schon 2019 ließen sich altgediente Zuschauer vernehmen, die ihr Abo mangels Masse zurückgeben wollten. Dafür liegen dann frische Inszenierungen, wie unlängst die der beiden Hausregisseure Claudia Bauer und Philipp Preuss nach ein paar ersten Aufführungen nach der Premiere auch schon mal über ein halbes Jahr sozusagen im künstl(er)ischen Koma, ehe sie ihre ‚Wiederaufnahme‘ feiern dürfen. Begründung: Die Proben- und Vorstellungspläne sind derart eng gestrickt ….
Denkt man über das Schauspiel in Leipzig nach, kann man sich zum Beispiel auch fragen, ob es auf Dauer sinnvoll ist, die Diskothek ausschließlich der Gegenwartsdramatik zu widmen – und umgekehrt. Oder ob da vielleicht doch Potential verschenkt wird und eine Zweitspielstätte noch mehr sein kann oder ob es ein neuer Theatertext mal auf die große Bühne schafft. Ein Klassiker (im weiteren Sinne) zum Beispiel im intimeren Rahmen ist gerade eher undenkbar, zumal auch die Hinterbühne – und das ist ein einzigartiger Raum – fast gar nicht mehr bespielt wird. Dort wütet, leidet und fantasiert sich ab und an noch Roman Kanonik prächtig durch Gogols Tagebuch eines Wahnsinnigen, inszeniert von der damaligen Regie-Assistentin Kristina Seebruch.
Was zu einer weiteren Frage führt: Nur recht selten sieht man am Schauspiel Leipzig Inszenierungen, in denen sich der eigene Nachwuchs – jenseits der großen Produktionen – ausprobieren kann. Leo Skverers Baustellenabende aus den ersten Spielzeiten unter Lübbe gehören dazu, Seebruchs Tagebuch und ihr Denis-Petković-Solo Völlig ausgebucht im Foyer der Diskothek. Überhaupt sind kleine Formate, niederschwellige Angebote eher Mangelware – Abende oder Reihen, die aus Ideen und Interessen im Ensemble auch mal kurzfristig entstehen und mit besonderer Spielfreude und Lebendigkeit punkten können, aber nicht zuletzt auch wunderbar geeignet sind, das Publikum an Haus und Spieler binden, ein Gefühl von „das ist unser Theater“ zu schaffen. Kreativität und Leidenschaft sind reichlich vorhanden – Haben wir nicht sogar eine schillernde, ziemlich einzigartige Schauspiel-Band, in der Ensemble und Gewerke gemeinsam auf die Pauke hauen?
Es wäre also durchaus an der Zeit, mal wieder und etwas ausführlicher darüber nachzudenken, was für ein Theater die Stadt will, anstatt mal eben noch vier – Moment, wieso eigentlich nur vier? – Jahre einfach weiter zu machen.
Bei allem Für und Wider: Völlig klar, dass es in der derzeitigen Situation mehr als schwierig und auch unzumutbar ist, am Intendantenkarussell zu drehen – und das sowohl für eine mögliche Findungskommission als auch für einen möglicherweise scheidenden Intendanten. Prüwers Vorschlag, quasi als Corona-Ausgleich, zunächst erst einmal für 1 Jahr zu verlängern – also bis 2024 und im kommenden Jahr neu zu schauen, ist deshalb durchaus fair und pragmatisch.
Es geht dabei ja um unser Theater. Ein Theater für viele, wenn nicht sogar eines für alle. Oder in schauspieleigenen Worten: „Ästhetische Vielfalt, prägnante Regiehandschriften, lebendige Debatten!“ Nur eines brauchen wir, braucht Leipzig, nicht: ein Theater des kleinsten gemeinsamen Nenners.