zwischen freibad und freiheit – 89/90 am schauspiel leipzig

Claudia Bauer, vom Haus schon mit dem Stempel "Expertin für unspielbare Stoffe" versehen, hat für Peter Richters DDR-Endzeit-Anekdotensammlung eine spannende Bühnenform gefunden. Und diese dann ein bisschen zu sehr durchgehalten. Aber allein dieser Chor!

Der bildet die (revolutionäre) Masse, die den Abend vorantreibt: Den Nährboden, der erdet ihn. Ganz stark, wenn die Choreinsätze harmonisch beginnen und – zusammen mit den Schauspielern – in einer wahren Kakophonie verschiedener Stimmen enden. Aber der Reihe nach.

Down below the cars in the city go rushing by. / I sit here alone and I wonder why.

Sitzen und sich wundern und immer wieder, immer wieder über damals reden, das tun in Peter Richters Buchvorlage wie in der Inszenierung der Erzähler (Wenzel Banneyer) und sein Best-Buddy S. (Roman Kanonik). Beide zur „Tatzeit“ 15jährige Punks in Dresden – Schule, nachts ins Freibad, Demos, Wende, Nazis, Wiedervereinigung …

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Die beiden reden von damals – und das tun sie im (Guck)kasten über der Bühne, auf dessen transparente Front Großaufnahmen ihrer Gesichter projiziert werden. So ist es ab und an, als spielten sie sich in ihrem eigenen Kopf ab. Was ja Erinnerungen auch tun. Schönes Bild!

I can feel the heat but it’s soothing. / Heading down, I search for the beat in this dirty town.

Unten setzt sich der Zuschauerraum mittels Holzvertäfelung und Wandlampen auf die Bühne fort. (Noch ’ne schöne Idee.) In beinah traumartigen Szenen pulsiert das nächtliche Freibadleben – Jugend, Kippen, Mädchen, Freiheit. Hier tobt aber auch das Staats-Ballett: StaBü-Lehrerin (Anna Keil) tanzt zwar nicht ihren Namen, dafür aber gruppendynamisch sozialistische Kernfragen und -aussagen, Wehrübungsleiter (Denis Petkovic) leiert im wahrsten Wortsinn seinen ewig gleichen Sermon herunter.

89/90 © Rolf Arnold
89/90 © Rolf Arnold

Auf den ostcharmanten Behörden-Polsterstühlen singt der Chor dazu zunächst melodisch Wir wollen immer artig sein / denn nur so hat man uns ge-he-rne . Kurz darauf sind sie die Kinder der Maschinenrepublik. Gleich wird Freiheit! skandiert.

Das Heute kommt vom Gestern, weil damals das Volk lieber ein Volk sein wollte, sind wir nun im Jahr 26 des vereinigten Deutschlands und weil damals die, die klatschten, während andere auf-klatschten doch nicht einfach so verschwunden sind …

Down town the young ones are going. / Down town the young ones are growing.

Gut, ganz so einfach sind die Kausalitätsketten dann vielleicht doch nicht zu knüpfen. Und das tut die Inszenierung von Claudia Bauer auch nicht. Sie erklärt nicht –  sie zeigt drauf, spitzt zu, stilisiert, choreografiert und ja, sie trifft sich auch ganz gern mal mit dem Klischee auf ’ne Karo ohne Filter.

89/90 © Rolf Arnold
89/90 © Rolf Arnold

Vor allem vorm Mauerfall … ähm … vor der Pause ist das bisweilen etwas zäh. Nach der Wende, die hier ganz sanft vonstatten geht, wird’s böser, elementarer. Auch das Zusammenspiel Chor – Schauspieler ist jetzt viel stimmiger und wirkungsvoller: Ein Gewirr an Stimmen, Worten, Forderungen, Fragen, aus dem die Schauspieler und Szenen auf- und in das sie wieder abtauchen. Oder sich dazu verhalten.

Aus dem Volk wird ein Volk, das dann natürlich erstmal völlig überfordert ist von den wunderbaren manmüsste-sollte-aber-man-könnte-ja auch-Möglichkeiten. Ja was denn? Fragt der Erzähler-Wenzel zwischen allen Stühlen, dass ist doch nüscht, so ein Leben im Konjunktiv! Die anderen können sich aber erstaunlich schnell auf Fressen-Fernsehn-Ficken verständigen. Oder auf Ausländer und Linke jagen. Was man halt so macht, wenn ein System wegbricht und kein Halt ist nirgends.

Much later baby you’ll be saying never mind. / You know life is cruel, life is never kind.

Wenzel Banneyers Erzähler pflegt den nachdenklichen, wenn nicht gar resignierten Blick-zurück-Ton. Bettina Schmidt schafft es, der L. DDR-Fahnenkleid und Karikaturansätzen zum Trotz eine große Ernshaftigkeit mitzugeben. Und Buddy-S. steht bei Roman Kanonik so voll im Jetzt und im Saft, dass man gleich einen Doppelkorn mit ihm trinken gehen möchte.

Kind hearts don’t make a new story / Kind hearts don’t grab any glory

Das ist böse, intelligent, oft witzig und geht auch auf. Aber die eigentlich brennende Frage (also zumindest unsere) nach dem Woher von dem, was heute wieder (und nicht nur) auf Ostdeutschlands Straßen los ist? More matter, with less art möchte man an manchen Stellen wünschen. Etwas, das widerspenstig ist, sich reibt, an dem aus-einem-Guss kratzt. Denn aus den Formalien des Abends mit Szenenwechseln, Chören, Video und Maskenmitteln ist kein Ausbruch irgendeiner Art vorgesehen. Dabei ändert sich doch alles. Oder nicht(s)?

Got to get a brand new experience. / Feeling right.

89/90 © Rolf Arnold
89/90 © Rolf Arnold

Starkes Bild zum Schluss: Anna Keil im dunkelroten Pailettenkleid mit einem Baseballschläger an der Rampe und nockt die anderen Spieler (mit Luftschlägen) aus, die wie Schießbudenfiguren immer wieder hochschnellen aus der Masse des Chores.

We’re the kids in the … GDR. Wer nicht erkannt hat, wie erstaunlich sich Abend und Geschichte in den Kim-Wilde-Song (der auch live auf der Bühne gesungen wird) hineinlesen lässt, der hat jetzt vielleicht einen Grund mehr, sich den Abend anzuschauen.

There’s a new wave coming I warn you.


» 89/90 am Schauspiel Leipzig
Nächste Vorstellungen am 3. und 23. Oktober.
Nach Peter Richter. Regie Claudia Bauer. Mit Wenzel Banneyer, Andreas Dyszewski, Roman Kanonik, Anna Keil, Tilo Krügel, Denis Petković, Annett Sawallisch, Bettina Schmidt. Chorleitung: Daniel Barke.

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