Allmählich sind Theaterbesuche nicht mehr nur virtuell, sondern auch ganz real möglich. Da man nicht weiß, welche Entwicklung die Pandemie im Herbst nehmen wird, sollte man die Zeit bis dahin nutzen. Der Gedanke kam mir, als ich am letzten Freitag über das f/stop-Festival auf dem Spinnereigelände schlenderte und Plakate des Westflügels sah, auf denen eine Premiere angekündigt wurde. An jenem Abend sollte die zweite Vorstellung stattfinden, und wenn man schon einmal im Leipziger Westen ist, müsste man die Gelegenheit doch nutzen, dachte ich mir. Karten gab es noch, auch wenn sich die Anzahl der Besucher der Zahl 50 näherte – und im Westflügel hat man sich vorgenommen, ab 50 Zuschauern um das Tragen einer Maske zu bitten. Nun ja, da ich letztens knappe 5 Stunden mit FFP-2-Maske in einer Castorf-Inszenieung im Berliner Ensemble gesessen habe, war das kein Problem.
Fünfzehn Jahre gibt es jetzt den Westflügel als Zentrum des Figurentheaters. Charlotte Wilde und Michael Vogel haben sich nun erneut mit einem Autor beschäftigt, der bereits vor 15 Jahren im Programm war: Charles Baudelaire. Und wie damals bei „Spleen“ führt Hendrik Mannes Regie. Diesmal hat man sich „Die Blumen des Bösen“ vorgenommen. Nun ist ein Gedichtzylus nicht in erster Linie ein Theatertext. Allerdings: Die letzten beiden Inszenierungen, die ich vor der Pandemie im Westflügel sah, waren Hamlet und Lear. Zwei dramatische Klassiker und doch – im Figurentheater Wilde & Vogel wurden daraus Abende, in denen die Handlung zugunsten phantasievoller und zauberhafter Bilder nur eine untergordnete Rolle spielte. Und für die Schaffung solcher Bilder sind Baudelaires Gedichte sicher eine sehr gute Basis.
Wenn man den Saal betritt, ist bereits eine Figur in Bewegung, eine Katze wie sich später zeigt. Nach diesem Vorspiel wird dann ein kleiner Motor in Gang gesetzt, der – passend zum Titel des Abends – eine Blume zum Erblühen bringt. Zwanzig Gedichte aus dem Zyklus hat man ausgewählt und diese von einer Reihe von Künstlern einlesen lassen, darunter Größen der Theaterwelt wie Barbara Nüsse oder Lilith Stangenberg. Manches Gedicht gibt es auch mehrstimmig oder fremdsprachig. Schön, dass das Progammheft alle Details aufführt, das regt zum Nachlesen daheim an. Verwendet wurde die deutsche Neuübersetzung von Simon Werle, erschienen 2017 bei Rowohlt anläßlich des 150. Todestages von Baudelaire, gerade wurde die 2. Auflage gedruckt, passend zum 200. Geburtstag des Dichters.
Während wir also den Stimmen vom Band lauschen, untermalt Charlotte Wilde alles mit stimmungsvoller Musik und zu sehen gibt es die Figuren von und im Spiel mit Michael Vogel. Natürlich wird es keine bloße Bebilderung der Gedichttexte, wie wollte man das auch umsetzen. Nein, da werden Stimmungen der Gedichte durch Figurenspiel aufgefangen, mal scheint sich sich ein Tanz der Figuren aus gesprochenem Wort und Klang der Musik zu ergeben, mal sieht man plötzlich Parallelen zwischen Bild und Ton, so wenn im Gedicht „Schönheit“ von strahlenden Augen die Rede ist und zugleich eine seltsame Figur mit blauen Augen zu sehen ist. Vielleicht aber auch nur ein Zufall? In den Gedichten tauchen immer wieder Frauenfiguren auf, man sieht sie auch auf der Bühne. Eine von ihnen erinnert an die Plastiken eines Giacometti, eine andere erscheint kopflos, eine dritte bewegt sich, einen Partner umkreisend, an einem Mobile. Zum Teil sind die Figuren auch nur Masken, hinter denen sich Michael Vogel verbirgt. Dann wieder entsteht eine Figur erst auf der Bühne – geformt aus einem Klumpen Ton. Ja, und auch die schon erwähnte Katze taucht noch einmal auf als das gleichnamige Gedicht zu hören ist. Am Ende viel Beifall nach zwei Stunden verzaubernden Theaters.
Die Dramaturgin Antonia Christl schreibt im Programmheft von Momenten der Synästhesie, der sich vermischenden Sinneseindrücke. Klingt beim Lesen etwas seltsam, sitzt man im Zuschauerraum, gibt es wirklich Augenblicke, wo man derartige Eindrücke zu haben glaubt. Ein neues und schönes Beispiel für den Zauber, der von Figurentheater ausgehen kann, zugleich eine Anregung, mal wieder zu Baudelaires Gedichten zu greifen. Dem Westflügel, diesem Kleinod der Theaterkunst im Leipziger Westen, sei Dank.
» Die Blumen des Bösen
20 aus 100 Gedichten von Charles Baudelaire.
Christl, Mannes, Wilde & Vogel, in Koproduktion mit dem Westflügel Leipzig und FITZ! Stuttgart. Figurenbau, Spiel, Bühne: Michael Vogel. Live-Musik: Charlotte Wilde. Stimmen (Aufnahmen): Lilith Stangenberg, Ilka Schönbein, Barbara Nüsse, Bianca Casady, Nadia Genet, Agnès Limbos, Neysa Barnett, Gabriella Crispino, Johanna Hähner, Orakle Ngoy und Rickie Lee Jones. Dramaturgie, Co-Regie: Antonia Christl. Regie: Hendrik Mannes