Der nackte Wahnsinn+X | Staatsschauspiel Dresden

vor den wal gestellt? – sebastian hartmann treibt uns in den wahnsinn+x

Der nackte Wahnsinn + X © Sebastian Hoppe
Der nackte Wahnsinn + X © Sebastian Hoppe

„Es sind diese pointenlosen Sketche, die etwas Faszinierendes haben, weil sie lustig sind wie ein Buster-Keaton-Sketch, aber nach dem Lachen kommt der Schock, kommt die Trauer, kommt die Angst …“ Fast wähnt man sich am Donnerstagmorgen auf Deutschlandradio Kultur in der Theaterkritik vom vergangenen Abend, ehe man feststellt, dass mitnichten gerade Sebastian Hartmanns Dresdner Der nackte Wahnsinn+X besprochen wird, sondern das neueste Filmwerk von Roy Andersson.

Denn beide Ausnahmeregisseure stellen mittels einer vordergründigen Komödie Schock, Trauer und Angst her – aber natürlich tun es beide auf gänzlichst unterschiedliche Art – der eine auf der Leinwand mit bis ins letzte Detail ausgemalten Tableaus und faszinierender Akkuratesse, der andere mit überforderndem Wildwuchs und Spielern, die sich in größter Verlorenheit um Kopf und Kragen improvisieren.

Die Boulevardkomödie „Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn, uraufgeführt im Jahre 1982, zeigt eine Schauspielertruppe bei den chaotischen Endproben zu einer Boulevardkomödie kurz vor der Premiere und lebt hauptsächlich von Verdopplung des Bühnen-Wahnsinns ob der Theater-im-Theater-Situation, dem abwechselnden davor und dahinter Bühnen- und Zuschauerblick, von Wiederholung, Timing und Tempo.

Von dieser Tür-auf-Tür-zu-Komödie ist auf der Bühne des Dresdener Staatsschauspiels so ziemlich genau das Tür-auf-Tür-zu übrig geblieben. Der Rest ist Wahnsinn mit frei an- und durcheinandergesetzten Szenen und Dialogen des Originaltextes. Das auf die Sekunde abgestimmte Zusammenspiel, das für die Herstellung von Komik und somit für das Gelingen des Abends vonnöten ist, wird hier gänzlich und auf allen Spielebenen verweigert.

Dann möchte ich wenigstens vor den Wal gestellt werden

Da steht Torsten Ranft als Regisseur (bzw. als trauriger Clown) Lloyd gleich zu Beginn allein auf der Bühne und faltet rein monologisch seine Truppe zusammen, da verzweifelt Nadja Stübiger als Dotty nicht wegen der vergessenen Sardinen, sondern über einem aufblasbaren Wal, der ihr sozusagen als ‚Spielbeschaffungsmaßnahme‘ untergejubelt wird. Eva Hüsters Poppy wiederum gibt als wehleidig-lampenfiebernder Pinguin ein Furzkissenkonzert, das niemanden interessiert und Viktor Tremmels Selsdon kommt mit Wiener Schmäh nicht nur dann zu früh, zu spät oder gar nicht, wenn es im Skript steht. Im Hintergrund gibt ‚Inspizient‘ Philipp Lux im Raubkatzenprint-Bodysuit per Durchsage Auf- und Abtrittsanweisungen, an die sich niemand hält, ein kleiner Dinosaurier wehrt sich erfolglos gegen das viel zu frühe Aussterben und das Bühnenbild wird auf- und gleich darauf wieder abgebaut … kurz: ein jeder scheint hier mit verzweifelter Energie sein eigenes Stück zu proben. Und doch sind alle miteinander in ihrer großen Bühnen-Blase gefangen. Das ist streckenweise ziemlich komisch, auch oder weil so mancher Kalauer recht tief fliegt. Was aber immer mitklingt ist eine sehr ratlose Traurigkeit.

Once upon a time we danced
Once upon a time we took a chance

Zu dieser passen ganz wunderbar Samuel Wieses musikalische Setzungen. Mach doch mal Teppich! herrscht Ranft-Lloyd seinen Musiker, der aus den ersten Publikumsreihen agiert, wiederholt an. Und frau ebendort findet, dass das mindestens ein Flokati ist, den Wiese da klang- und stimmlich perfekt anrichtet, in dessem hohen, weichen Flor es sich herrlich versinken lässt. Widerstand (beinahe) zwecklos.

Tot im Bett

Nach circa eineinhalb Stunden werden alle erfolglosen Komödienbemühungen eingestellt und Cordelia Wege gibt als titelgebende X nun schon zum zweiten Mal in Folge die Frau für nachgesetzte Monologe. Während ihre wunderbar pure Lotz-Text-Performance fast das eigentliche Highlight des » Berliner Lear  war, lässt dieser gewissermaßen zweite Akt in Dresden sowohl textlich als auch in der sehr videoanimationsverliebten Setzung ein wenig ratlos zurück. Dabei ist ihr Spiel nicht minder intensiv und ein gewisser assoziativer Wort-an-Wort-Strudel-Sog entwickelt sich auch hier. Im Leipziger Centraltheater hat Sebastian Hartmann seinerzeit Salonkomödien mit diversen Überdrehungen auf immense Fallhöhe geschraubt und den Abend dann im zweiten Teil komplett kippen lassen. Das gelingt hier nicht ganz, ein wenig unfertig scheint dafür das Ganze, wie noch nicht ganz ausgereift.

Sehenswert sind Abend und Spieler aber allemal. Und sich endlich wieder einem gewissen Bühnenwahnsinn mit Haut und Haar und Leib und Seele ausliefern zu können, ist höchst wunderbar.


» Der nackte Wahnsinn+X
REGIE UND BÜHNE Sebastian Hartmann. KOSTÜME Adriana Braga Peretzki. MUSIK Samuel Wiese. VIDEO Christian Rabending. SCHNITT Thomas Schenkel, Diana Stelzer. ANIMATION Tilo Baumgärtel. LICHT Andreas Barkleit. DRAMATURGIE Jörg Bochow. Mit Nadja Stübiger, Luise Aschenbrenner, Yassin Trabelsi, Ursula Hobmair, Viktor Tremmel, Torsten Ranft, Eva Hüster, Philipp Lux, Cordelia Wege.

WIEDER AM 12., 22. und 23. OKTOBER 2020

 

 

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