Die Umsiedlerin | Deutsches Theater Berlin

wenn nur die menschen besser wärn – kühnel und kuttner mit heiner müller am dt

Liest oder hört man heute Interviews von Heiner Müller aus den 90er Jahren, so ist man verblüfft, weil seine Worte oft aktuell oder sogar prophetisch sind. Welche Wirkung können hingegen Müllers frühe Werke heute noch entfalten? Vielleicht hat man sich diese Frage am Deutschen Theater in Berlin gestellt und deshalb das Regieduo Tom Kühnel und Jürgen Kuttner mit der Inszenierung von Müllers „Umsiedlerin“ beauftragt.

Die Umsiedlerin @ Arno Declair, Deutsches Theater Berlin
Die Umsiedlerin @ Arno Declair, Deutsches Theater Berlin

Ein Stück aus den späten 50er und frühen 60er Jahren, das heute vor allem deshalb bekannt ist, weil es 1961 Anlass für einen großen Theaterskandal war. Das Stück behandelt wichtige Ereignisse in der Landwirtschaft im Osten Deutschlands: von der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone bis zur Gründung Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften in der DDR. Das sind allerdings Themen, die für manch Nachgeborenem wahrscheinlich ebenso weit entfernt sind wie Thomas Müntzer und der Bauernkrieg.

Der Abend am Deutschen Theater beginnt mit einer Videoprojektion: Man liest Jahreszahlen mit zugeordneten Ereignissen. Wer in der DDR die Schule besucht hat, dem wird das bekannt vorkommen. „Wie stelle ich mir die Zukunft vor?“ war ein beliebtes Aufsatzthema. Die Landung auf dem Mars wurde für 1985 prognostiziert, die Nahrungsaufnahme in Tablettenform für 2012. Aber auch die Manipulation anderer Völker durch Hypnose wurde vorausgesagt. Nun waren Wissenschaft und Technik doch nicht so schnell, wie man vor 50 oder 60 Jahren geglaubt hat. Für den Zuschauer von heute ist es eine Positionsbestimmung: Wir schauen in die Vergangenheit auf Menschen, die von einer Zukunft träumen, die für uns Gegenwart ist.

Nach diesem kurzen Vorspann kommen sie auf die Bühne – die Bauern in grauer Arbeitskleidung, in den Händen rote Fahnen haltend, die auf dem Boden landen, nachdem Junkerland in Bauernhand übergegangen ist. Kuttner und Kühnel Vertrauen auf Müllers Text, bauen mit „Mommsens Block“ zwar einen Fremdtext ein, der aber auch von Müller stammt. Die Bühne weckt keine Assoziationen ans Landleben, ein paar Schmuckelemente erinnern an sozialistische Agitation und Propaganda und einmal fährt sogar ein echter Traktor auf die Bühne. Für die Schauspieler gibt es viele Möglichkeiten zu glänzen, einige Beispiele seien genannt. Paul Grill als Großbauer bewegt sich auf schmalem Grat zwischen Ernst und Komik, Almut Zilcher lässt viel lakonischen Witz in die Rolle verschiedener Ehefrauen fließen, übernimmt aber auch die Rolle des Landrats. Frank Büttner, einer aus der Riege Castorfscher Volksbühnen-Helden, spielt die Rolle des Anarchisten und Biertrinkers Fondrak mit dem Zynismus und dem närrischen Witz, den die Rolle verlangt.

Die Umsiedlerin @ Arno Declair, Deutsches Theater Berlin
Die Umsiedlerin @ Arno Declair, Deutsches Theater Berlin

Heimlicher Star des Abends aber ist Linda Pöppel. Mit Schmulka bietet sie die Karikatur einer FDJlerin, die Rolle der Umsiedlerin Niet teilt sie sich mit vier weiteren Frauen. Diese Umsiedlerinnen schweben den größten Teil des Abends förmlich über die Bühne, geschwängert von Fondrak, den Blick gesenkt, leise und mit singendem Tonfall sprechend, in langen weißen Kleidern scheinbar eher einem griechischen Drama als einem Heiner-Müller-Stück zugehörig. Der Wandel vollzieht sich, als Fondrak, dem Land angeboten wird, sich entschließt, in den Westen zu gehen. Die von ihm verlassene Niet entschließt sich, mit diesem Land zugleich ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Äußeres Zeichen dieses Entschlusses: Sie legt das weiße Kleid ab und hat dann die Hosen an. Den Antrag eines anderen Bauen (Bernd Stempel) lehnt sie ab, will sich nicht gleich wieder in Abhängigkeit eines Mannes begeben.

Müllers letzte Szene, in der es um den Eintritt in die LPG geht, ist hier gestrichen. Stattdessen spricht am Ende Linda Pöppel einen Text, der einem der Traktoristen gehört. Der erinnert sich an den Mord an einem sowjetischen Bauern „auf einem Maisfeld groß wie Sachsen“ während des Krieges. Ein starker Schlusspunkt für diesen Abends. Mag sein, dass Bodenreform und LPG-Gründung bald nur noch fast vergessene historische Randnotizen sein werden. Nicht vergessen werden aber dürfen die Verbrechen des 2. Weltkrieges, der vor 80 Jahren entfesselt wurde.

Nach diesen Worten viel Beifall in den gut besuchten Kammerspielen des Deutschen Theaters und sogar ein vereinzelter Bravo-Ruf. Es sieht so aus, als könnten auch Müllers frühe Texte auf den Bühnen von heute zum Leben erweckt werden.


» Die Umsiedlerin
Von Heiner Müller. Regie Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. Bühne Jo Schramm. Kostüme Daniela Selig. Dramaturgie Claus Caesar. Mit Jörg Pose, Felix Goeser, Paul Grill, Markwart Müller-Elmau, Bernd Stempel, Marcel Kohler, Frank Büttner, Jürgen Kuttner, Almut Zilcher, Linda Pöppel und Chor.

Next shows am 10. und 20. Oktober 2019, Deutsches Theater Berlin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert